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    Shortbus
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    3,5
    gut
    Shortbus
    Von Carsten Baumgardt

    John Cameron Mitchell erfüllte sich den Traum vieler Filmemacher. Der Regisseur und Autor verquickt in seinem Werk traditionelles Drama mit Hardcore-Pornoszenen, wie sie in dieser expliziten, drastischen Form bisher noch nicht im Kino zu sehen waren - nicht einmal in Larry Clarks und Ed Lachmans Ken Park. „Shortbus“ ist ein atmosphärischer Szenetrip in famoser Optik.

    Das schwule New Yorker Pärchen Jamie (Paul Dawson) und Jamie (PJ DeBoy) lebt seit Jahren zusammen. Um der Beziehung wieder mehr Schärfe zu verleihen, wollen sie außerhalb der Verbindung nach Sex suchen. Regeln dafür gibt es nicht. Mit dem experimentierfreudigen Ceth (Jay Brannan) finden sie einen geeigneten Partner, der einem flotten Dreier nicht abgeneigt ist. Der Versuch, bei der Sextherapeutin Sofia (Sook-Yin Lee) kompetenten Rat zu bekommen, schlug zuvor gnadenlos fehl, weil die junge Frau selbst unter einem schwerwiegenden Problem leidet: Sie hatte noch nie einen Orgasmus - nicht unbedingt die beste Voraussetzung für ihren Job. Durch Jamie und Jamie bekommt Sofia den Tipp, sich im Sexclub „Shortbus“, wo sich die New Yorker Undergroundszene zu hemmungslosen Abenteuern trifft, „heilen“ zu lassen. Obwohl ihr Mann Rob (Raphael Barker) im Bett bis an die sportlich machbaren Grenzen geht, tut sich bei Sofia nichts. Nach anfänglicher Irritation über die wilden Shortbus-Gruppensexorgien freundet sie sich mit der jungen Domina Severin (Lindsay Beamish) an. Derweil gleitet Jamie, der seit geraumer Zeit einen Film über sich selbst dreht, immer tiefer in Depressionen ab...

    „Shortbus“ ist der dritte Film des neuen Autobahn-Labels, mit dem Senator kontrovers diskutierbares Kino in Deutschland etablieren will. Der Auftakt mit dem provozierenden Pädophilen-Drama Hard Candy und dem ultra-coolen Neo-Noir-Thriller Brick war nahezu perfekt, „Shortbus“ serviert dem Publikum noch stärkeren Tobak, als dies bereits „Hard Candy“ tat und ist optisch fast ebenso hübsch wie „Brick“. Dass John Cameron Mitchells Hardcore-Drama trotzdem nicht die Qualität seiner Vorgänger erreicht, liegt vornehmlich daran, dass es „Shortbus“ an Komplexität mangelt. Die Charaktere, die Mitchell übrigens mit den Darstellern erschuf und vertiefte, haben in 98 Minuten eigentlich nur ein Thema: Sex. Aus etwas anderem scheint ihr Leben nicht zu bestehen. Zumindest definieren sie sich ausschließlich darüber. Lediglich beim Paar Jamie und Jamie lässt Mitchell mehr Tiefe zu.

    „Shortbus“ ist der aktuell freizügigste Film, der außerhalb der Pornobranche gedreht wurde. Will Mitchell (beste Regie beim Sundance Festival für „Hedwig And The Angy Inch“, 2001) damit provozieren? Sicherlich. Will er sein Publikum schockieren, wie dies Larry Clark und Ed Lachman in Ken Park wollten? Nein, sicher nicht. Er tut nur das, was eigentlich logisch ist. In einem Film über Sex sollte selbiger auch zu sehen sein. Und was den Besucher in „Shortbus“ erwartet, bekommt dieser gleich in einer fulminanten Eröffnungsszene zu spüren. Die Kamera von Frank G. DeMarcos pirscht sich zu einem jazzigen Score über eine plastische New-York-Collage an und landet direkt in mehreren Wohnungen, wo es gerade zur Sache geht. Jamie (PJ DeBoy) filmt sich dabei, wie er in einer akrobatischen Aktion sich selbst oral befriedigt und halb auf dem Kopf stehend in seinen eigenen Mund ejakuliert - was die Großaufnahme nicht verschweigt. In der nächsten Stadion hat der Betrachter das Gefühl, dass sich Rob (Raphael Barker) und Sofia (Sook-Yin Lee) im Kamasutrastil das Hirn herausvögeln. Und Domina Severin (Lindsay Beamish) wird Liebhabern des Malstils von Jackson Pollock keine Freude bereiten, wenn sie einen Zögling quer durchs Zimmer auf ein Gemälde spritzen lässt - mit Blick auf Ground Zero.

    Besonders pikant für die amerikanische Volksseele ist einer schwuler Dreier zwischen den beiden Jamies und Ceth (Jay Brannan), bei der ein erigierter Penis als Mikrofonständer benutzt wird, um „The Star Spangled Banner“, die Nationalhymne, zu schmettern. Der explizite Oralverkehr beschränkt sich dabei nicht nur auf Geschlechtsteile, sondern auch auf rückseitige Elemente. Nachdem mit dem Anfang erst einmal klar gestellt wurde, dass Mitchell ernst macht, widmet er sich in der Folgezeit überwiegend seinen Charakteren und unterbricht die Studie nur durch einige Orgien- und weitere Sexszenen. Hier wird übrigens nicht simuliert.

    Richtig stark ist „Shortbus“ immer dann, wenn Mitchell ausgiebig seine Atmosphäre arbeiten lässt. Im Sexclub entsteht eine merkwürdig-surreale Bohème-Stimmung. „It’s just like the sexties except with less hope“, bilanziert die New Yorker Szene-Ikone Justin Bond zwischendrin einmal treffend. Doch „Shortbus“ ist keineswegs ein verkrampfter Film. Vielmehr schildert er erfrischend offen ein authentisches sexuelles Paralleluniversum, das sich im Bauch der Großstadt etabliert hat - ohne irgendeine Reue oder gar Scham. Zwischendrin darf auch gelacht werden, gar heiter geht es mitunter zu. Optisch perfekt arrangiert Mitchell einige collageartigen Szenen, die auch den Film beschließen.

    Was nicht so recht funktionieren will, ist die inhaltliche Klammer der Story, Sofias Orgasmusproblem. Als Anschub, um in die Gesellschaft eingeführt zu werden, ist die Idee nicht schlecht, aber die Überstilisierung zum Ende hin, wirkt völlig überzogen und platt, hier gleitet „Shortbus“ unnötig ins Märchenhafte ab. Dazu ist der Charakter der Sofia durch die Fixierung zu eindimensional und ausrechenbar. Außer der Tatsache, dass sie keinen Orgasmus kriegen kann, erfährt der Zuschauer nicht sehr viel über sie, obwohl sie zu den tragenden Säulen des Ensembles zählt.

    Es ist ohne Zweifel erfreulich, dass es mittlerweile Kino wie „Shortbus“ gibt - ein ehrlicher Frontalangriff auf die Sehgewohnheiten der Publikums, aber gleichzeitig ambitioniert. Die Lust am Sex verdrängt hier dramatische Probleme wie AIDS, die nur am Rande gesteift werden - das alles in einer Post-9/11-Klimax, in der jeder auf der Suche nach dem persönlichen Glück ist. Und in „Shortbus“ definiert sich Glück vordergründig über sexuelle Befriedigung. Der Film schildert eine vibrierende, pulsierende Szene mit speziellen Mechanismen, eine allgemeine Gültigkeit interessiert Mitchell überhaupt nicht, das ist nicht sein Thema.

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