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    No Country For Old Men
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    4,5
    hervorragend
    No Country For Old Men
    Von Carsten Baumgardt

    1984 bis 2003. Über diesen erstaunlich langen Zeitraum schafften es Joel und Ethan Coen, eine Serie von mindestens guten, oft sogar meisterhaften Filmen hinzulegen. Erst mit Ein (un)möglicher Härtefall und im Folgejahr Ladykillers ließen die Brüder ein wenig nach, was angesichts ihres enormen Talents als Enttäuschung gewertet werden konnte. Nach drei Jahren Pause stellt sich nun die spannende Frage: Sind die Coens noch relevant? Die Antwort fällt eindrucksvoll und eindeutig aus. Das staubtrocken-stylishe Thriller-Drama „No Country For Old Men" nach dem Roman von Pulitzer-Preisträger Cormac McCarthy ist handwerklich unglaublich gut, nahezu perfekt.

    1980 in Südwest-Texas: Der einfache Arbeiter Llewelyn Moss (Josh Brolin) lebt mit seiner Frau Carla Jean (Kelly Macdonald) ein bescheidenes Leben in einem Wohnwagenpark. Beim Antilopen jagen in der weiten Prärie stolpert er über ein Massaker. Hier ist offensichtlich ein Drogendeal ganz gewaltig schief gelaufen. Mehrere Leichen liegen verstreut herum, lediglich ein Mexikaner (Chip Love) hat schwer verletzt überlebt. Llewelyn macht keine Anstalten, dem Sterbenden zu helfen. Auch den Pickup-Truck voller Drogen lässt er links liegen, sichert sich stattdessen die 2,4 Millionen Dollar in einem Koffer. Doch dann begeht Llewelyn einen schweren Fehler. Als er sich noch einmal zurück an den Tatort macht, um dem Schwerverletzten Wasser zu bringen, bekommt er unliebsamen Besuch. Fortan machen die Urheber des verpatzten Deals Jagd auf Llewelyn. Ganz besonders unangenehm ist der brutale, völlig skrupellose Profikiller Anton Chigurh (Javier Bardem), dessen Weg im wahrsten Sinne des Wortes Leichen pflastern. Llewelyn steht jedoch nicht ganz allein da. Dorfsheriff Ed Tom Bell (Tommy Lee Jones) weiß, in welcher Gefahr sich der Gejagte befindet und will ihn retten. Doch der Gesetzeshüter trottet den Leichenbergen, die Chigurh überall hinterlässt, stets einen Schritt hinterher...

    Die Fußstapfen, in die sich die Coen-Brüder mit „No Country For Old Men" wagen, sind groß. Sehr groß sogar. Die beiden Filmemacher zitieren einerseits eifrig, bleiben sich aber dennoch selbst treu und hinterlassen ihre unverkennbare Handschrift. Die Coens schlagen einen Ton wie Sam Peckinpah in Bring mir den Kopf von Alfredo Garcia an, servieren präzise Hommagen an The Getaway (wieder Peckinpah) und Sergio Leones Zwei glorreiche Halunken (jeweils in Hotelszenen). Zitat und Plagiat liegen nicht allzu weit auseinander, doch in den Händen der Coens besteht keine Gefahr, dass hier etwas aus dem Ruder läuft. Schon die erste Sequenz stellt klar, von welch inszenatorischer Größe der Film ist. In breiten, rauen und dennoch wunderschönen Cinemascope-Bildern von Roger Deakins (Die Ermordung des Jesse James durch den Feigling Robert Ford, A Beautiful Mind, Thirteen Days) wird die simple Geschichte von Jägern und Gejagtem clever etabliert. Fortan geht es nur noch in eine Richtung, nämlich nach vorn, immer dem fliehenden Llewelyn hinterher. Die Dialoge sind sparsam, aber prägnant, das Tempo ist Coen-typisch gesittet, in der flimmernden Hitze von Südwest-Texas übertreibt es keiner mit der Eile – selbst in Extremsituationen nicht.

    Was „No Country For Old Men" großartig macht, sind die bis ins allerkleinste Detail perfekt inszenierten Verfolgungsjagden und Mann-gegen-Mann-Duelle. Und es gibt immer Verlierer, die diese mit dem Leben bezahlen. Neben mehreren grandiosen Shootouts überragt eine wahrlich unkonventionelle Hetzjagd, in der ein furchteinflößender Bluthund in einem reißenden Fluss rigoros die Verfolgung des Flüchtigen aufnimmt. Das ist jedoch nur eine exemplarische von vielen Szenen, die im Gedächtnis haften bleiben. Neben der augenfälligen optischen Meisterschaft begeistert der phänomenale Tonschnitt, der das Publikum an mehreren Stellen gehörig zusammenzucken lässt, wenn die Gewalt eruptiv-schmerzhaft über die Leinwand rollt. Die Coens gehen diesmal härter zur Sache und machen keine Gefangenen. Dabei kristallisieren sich zwei Arten von Morden heraus. Bei der ersten Sorte wird das Publikum ob der grotesken Situation zum Lachen gezwungen, um dem berühmten schwarzen Humor der Coens Rechnung zu tragen. Bei Variante zwei bleibt dem Betrachter jeglicher Humor im Halse stecken. Effektiver sind freilich die todernsten Gräueltaten, weil sie getragen von der Härte direkt an die Nieren gehen.

    Der Ton des Films spiegelt sich logischerweise auch in den Charakteren wider. Lakonisch. Zynisch. Sadistisch. Moralisch. Wie geht das zusammen? All diese Attribute vereint die zentrale Figur, der psychopathische Killer Anton Chigurh in sich. Der Auftragsmörder folgt einem sonderbaren Kodex, den er gnadenlos umsetzt – nur ein Hintertürchen lässt er seinen Opfern manchmal offen, wenn ein Münzwurf über Leben und Tod entscheidet. Javier Bardem (Das Meer in mir) ist die große Attraktion der Schauspielergarde. Der Spanier spielt seinen Psychopathen mit der furchterregendsten Präzision seit Anthony Hopkins‘ Hannibal Lecter in Das Schweigen der Lämmer. Bardem wandelt in jeder Sekunde - ebenso wie Woody Harrelson (Wag The Dog, Natural Born Killers) als Kopfgeldjäger - am Rande der Karikatur, meistert die Gratwanderung aber mit traumwandlerischer Sicherheit. Wer sich beschwert, die Figur sei konstruiert und realitätsfern, liegt zwar richtig, aber die Coens haben nie behauptet, ein Doku-Drama zu drehen. Vielmehr setzen sie hier voll auf die Faszination für diesen unglaublichen Charakter, den Bardem mit seiner absurden Prinz-Eisenherz-Frisur, den gefrorenen Gesichtszügen und seinem steten Begleiter, einem druckluftbetriebenen Bolzenschussgerät, zum Leben erweckt... und sei es nur ein künstliches.

    Aber auch wenn Chigurhs Gegenspieler in ihrer Zeichnung menschlicher ausfallen, schaffen sich die Coens ein kleines Problem damit, dass sie eine auffallende Distanz zwischen Leinwandakteuren und Publikum bringen. Sie wissen wahrscheinlich, warum sie die Identifikation verweigern. Denn die Zahl der Charaktere wird nach und nach merklich ausgedünnt. Dem klassischen Sympathieträger kommt Llewelyn Moss am nächsten. Er besitzt das größte Identifikationspotenzial und wird von Josh Brolin (Planet Terror, Melinda und Melinda, Im Tal von Elah), der zuletzt schon in Ridley Scotts American Gangster überzeugte, mit spröder, aber bemerkenswerter Präsenz als eine Art Nick Nolte reloaded gegeben. Die dritte Säule ist Urgestein Tommy Lee Jones (Auf der Flucht, Three Burials), der quasi als Titelgeber stehen kann und dem philosophischen Gedankengut der Vorlage McCarthys Rechnung trägt. Sheriff Bell ist der Konterpunkt zum restlichen Geschehen. Vom zähen Leben zermürbt, amtsmüde, desillusioniert, aber immer noch seine Pflicht tuend, ist er nicht mehr in der Lage zu folgen. Aber von den Hauptfiguren ist Jones‘ Gesetzeshüter die uninteressanteste. Das trägt dazu bei, dass der Schluss für Diskussionsstoff sorgt. Störend wirkt keinesfalls die Abkehr von liebgewonnenen Konventionen. Der Punkt ist ein anderer. Die Coens setzen einen wichtigen Storytwist zu früh und schaden sich damit selbst. Der Film läuft folglich in einer Art Epilog langsam aus.

    Fazit: Mit diesem fulminanten Ausflug ins raue, texanische Neo-Western-Country melden sich die Coens zurück. Wie bilanzierte US-Kritiker James Berardelli so schön: „'No Country For Old Men'" is a western that's not a western, a crime thriller that's not a crime thriller, and a comedy that's not a comedy." Doch die gegensätzlichen Elemente stehen sich nicht im Weg, sondern verbinden sich in den Händen der Coens zu einem filigranen Gesamtwerk, das seine gesamte Wucht erst in der Nachwirkung entfalten kann. „No Country For Old Men" mag vielleicht im Angesicht von bahnbrechenden Meisterwerken wie Miller´s Crossing, Fargo und The Big Lebowski nicht der beste Coen-Film sein, aber handwerklich waren die Brüder nie stärker.

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