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    Jahreszeiten
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    3,0
    solide
    Jahreszeiten
    Von Christoph Petersen

    Nach nun mittlerweile vier Spielfilmen kann man mit Sicherheit sagen, dass der 1959 in Istanbul geborene Regisseur Nuri Bilge Ceylan richtig daran getan hat, an sein Studium der Elektrotechnik noch eines der Filmwissenschaften hinten ranzuhängen. Bereits sein Erstling „Die Kleinstadt“ konnte 1998 eine Auszeichnung mit dem Caligari-Preis der Berlinale für sich verzeichnen, und auch das Folgeprojekt „Bedrängnis im Mai“ fand international große Beachtung. Zuletzt hatte Ceylan mit seinem stillen Drama „Uzak“ überzeugt, das auch in Deutschland eine Kinoauswertung erfuhr. In diesem macht sich ein Arbeitsloser vom Lande auf, um bei seinem Bruder, einem Fotografen aus Istanbul, unterzukommen und in der Großstadt auch endlich einmal selbst Glück zu finden. Auch in seinem neuesten Werk „Iklimler – Jahreszeiten“ dreht es sich wieder um das Glück und die Suche danach. Nur ist es hier nicht die Gesellschaft, die den Protagonisten an seinem Glück hindert, sondern er selbst ganz allein. Ein interessanter Perspektivwechsel, der einmal mehr von dem tiefen Verständnis des Regisseurs für seine Charaktere zeugt. Allerdings kann man sich gerade im letzten Drittel des Films nicht dem Gefühl erwehren, dass Ceylan diesmal nicht ganz so viel wie sonst zu erzählen hat und die 101 Minuten vielleicht nicht unbedingt in dieser Länge Not getan hätten.

    Sommer: Die Zeit am Meer ist ihr erster gemeinsamer Urlaub seit langem. Doch Isa (Nuri Bilge Ceylan) und Bahar (Ebru Ceylan) haben sich nichts mehr zu sagen. Beide fühlen sich von ihrem Partner eingeengt, drohen an der Beziehung zu ersticken. Bei einem Abendessen mit Freunden kommt es erneut zu einem Streit, am nächsten Tag macht Isa Schluss. Herbst: Isa hat Bahar seit der Trennung nicht mehr gesehen. Mit seinem Job als Archäologie-Professor lenkt er sich von der stechenden Einsamkeit ab. Als er seine Ex Serap (Nazan Kirilmis), die mittlerweile glücklich neu liiert ist, in einer Buchhandlung wiedertrifft, lässt er sich mit ihr auf eine kurze, heftige Affäre ein. Winter: Als Isa erfährt, dass Bahar wegen ihrer Arbeit als Produzentin einer TV-Soap im kalten türkischen Osten unterwegs ist, fliegt er ihr kurzentschlossen hinterher. In einer verschneiten Kleinstadt mitten im Nirgendwo versucht er sie zurückzugewinnen...

    Das größte Risiko, das Regisseur Ceylan bei „Jahreszeiten“ eingehen musste, ist seine negative Hauptfigur. Isa ist selbstgerecht, egoistisch und destruktiv, kommt so in keinem einzigen Moment des Films sympathisch oder auch nur bemitleidenswert rüber. So wird es dem Zuschauer natürlich ungeheuer schwer gemacht, sich mit Isa zu identifizieren, was im Endeffekt aber absolut notwendig ist, um in den Film hineinzufinden und ihn nicht nur von außen als trockene Fallstudie wahrzunehmen. Doch wem dieses schwierige Unterfangen gelingt, der wird dafür zunächst auch reichlich entlohnt. Isa ist ein spannender, weil tiefschwarzer Charakter, der andere ohne Rücksicht in seine eigene, schmerzhafte Isolation mit hineinzieht. Verkörpert wird Isa vom Regisseur selbst, wobei dieser auch als Schauspieler die Gefühlsarmut und den unendlichen Egoismus seines Protagonisten in jeder einzelnen Szene konsequent durchzieht. In der Rolle der Bahar steht dem Regisseur Ebru Ceylan zur Seite, der er im wahren Leben nicht etwa den Laufpass gegeben, sondern stattdessen geheiratet hat. Im Gegensatz zu ihrem Mann, der eine komplett destruktive Figur spielt, hat Ebru Ceylan sogar noch eine schwierigere Aufgabe zu meistern: Zwar hat sich Bahar von Isa mir runterziehen lassen, doch scheint bei ihr immer wieder ein letzter Kampfeswille durch, der ihre Hoffnung noch nicht vollständig erlöschen lässt.

    Auch die poetischen, aber ebenso bitterkalten Bilder, mit denen Ceylan Isas Beziehungen in teilweise unerträglich langen, kargen Einstellungen unterstreicht, passen sich wunderbar in die zerstörerische Stimmung des Films ein. Dennoch schafft es „Jahreszeiten“ nicht, die Neugier des Zuschauers über die vollen 101 Minuten gleichmäßig hochzuhalten. Eigentlich schon nach den Liebesferien im Sommer, aber spätestens nach der destruktiven, mit einer Quasi-Vergewaltigung beginnenden Affäre im Herbst hat man Isa durchschaut. Der Winter bringt dann außer einem Haufen Schnee kaum noch etwas Neues, erzählt eigentlich nur die gleiche Geschichte in leicht variierter Form zum dritten Mal. Natürlich kann man sich auch während dieses dritten Abschnitts an den kalten, vom wilden Schneetreiben getrübten Bildern laben, und auch das Spiel der Darsteller bleibt weiterhin exzellent, doch es fehlt hier einfach etwas, das die Charakterzeichnung vorantreibt, ihr noch einmal einen letzten Kick gibt.

    Fazit: Nuri Bilge Ceylan entwirft mit „Jahreszeiten“ eine tiefgehende, schmerzend destruktive Charakterstudie, die in der zweiten Hälfte des Films aber etwas daran krankt, dass man das Studienobjekt schlicht zu früh durchschaut hat und so kaum noch neue Erkenntnisse zu gewinnen sind.

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