Da es sein letzter Film „Not On The Lips“ aus unerfindlichen Gründen nicht in die deutschen Kinos schaffte, ist es nun schon ganze neun Jahre her, dass mit der Musical-Komödie „Das Leben ist ein Chanson“ zuletzt ein Alain Resnais über unsere Leinwände flimmerte. Aber das lange Warten hat sich gelohnt, mittlerweile schon stolze 84 Jahre alt, hat das französische Regie-Urgestein mit seinem Ensemble-Drama „Herzen“ noch einmal einen weiteren ganz starken Film rausgehauen. Nachdem er sich in seinen letzten Werken eher fröhlichen Themen zugewandt hatte, wählte er mit dem Stück „Private Fears In Public Places“ für „Herzen“ eine überraschend ernste Vorlage des mit ihm eng befreundeten englischen Theaterautors Alan Ayckbourn. Aber trotz all der Einsam- und Traurigkeit seiner Figuren nähert er sich ihnen auch gewohnt verspielt und gut gelaunt. Auch ein anderer Spagat gelingt Resnais hervorragend – anstatt die Bühnenherkunft seiner Geschichte zu verleugnen, bindet er diese immer wieder sehr geschickt und stimmig in seine Inszenierung ein. So ist „Herzen“ ebenso absolutes Pflichtprogramm für Theaterfreunde wie für jeden Fan des französischen Kinos.
Thierry (André Dussollier) ist Wohnungsmakler. Momentan muss er sich mit dem äußerst schwierigen Pärchen Nicole (Laura Morante) und Dan (Lambert Wilson) herumschlagen, die sich noch nicht einmal sicher sind, ob sie überhaupt zusammenbleiben. Thierry hat auch eine Kollegin, die streng gläubige Charlotte (Sabine Azéma), mit der er anzubändeln versucht. Als diese ihm eines Tages ein Video mit ihrem religiösen Lieblingsprogramm ausleiht, geht Thierry zunächst von einem langweiligen Abend vor dem Fernseher aus, doch hinter der eigentlichen Sendung verbirgt sich noch eine anzügliche Überraschung. Thierrys Schwester Gaelle (Isabelle Carré) lässt sich beinahe täglich auf ein neues Blind Date ein, um ihrer Einsamkeit endlich zu entkommen. Doch erst als sie auf Dans Anzeige reagiert, der sich eine Auszeit von Nicole genommen hat, scheint sie mit dieser Methode endlich einmal Erfolg zu haben. Wenn sie mit ihrem Job als Maklerin durch ist, ist Charlotte stets darauf bedacht, im Namen der Bibel etwas Gutes zu tun. So übernimmt sie auch eine Vertretung als Pflegerin für Arthur (Claude Rich), dem sturen Vater des Barkeepers Lionel (Pierre Arditi). Normalerweise beleidigt dieser seine Pflegerinnen ohne Unterlass und bewirft sie auch schon mal mit einer Schüssel heißer Suppe. Doch irgendwie schafft es Charlotte, Arthur mit ihrem festen Glauben und durchscheinenden Spitzendessous ruhig zu stellen…
Es heißt, dass Ayckbourn der – nach Shakespeare – am häufigsten aufgeführte englische Theaterautor überhaupt ist. Und die stolze Anzahl von etwa 70 Stücken, die in mehr als 35 Sprachen übersetzt sowie mit zahlreichen Auszeichnungen geehrt wurden, lassen diese Aussage auch durchaus glaubhaft erscheinen. In „Private Fears In Public Places“ erzählt er anhand von sechs auf den ersten Blick grundverschiedenen, geschickt ineinander verwobenen Biographien eindringlich differenziert, ungeheuer aufregend und unterhaltsam abwechslungsreich von der Einsamkeit. Während Resnais bei seiner ersten Verfilmung eines Ayckbourn-Werkes, als er nämlich 1992 aus dem Stück „Intimate Exchanges“ gleich zwei Filme, „Smoking“ und „No Smoking“, adaptierte, alles in seiner urenglischen Form beließ, wurde beim Schreiben von „Herzen“ wirklich jedes Detail französisiert – lediglich ein Glas schlechter Sherry überlebte diese Transformation. Doch durch diesen Eingriff hat das Stück keinesfalls seine Seele verloren, eher noch zusätzlich an Charme und Esprit gewonnen.
Würde man Resnais Inszenierungen nach einigen Minuten des Films und nur mit einem Wort beschreiben müssen, würde man wohl „verspielt“ wählen. Doch es wird schnell klar, dass hinter all den Spielereien sehr genau durchdachte Ideen stehen. Wenn so zum Beispiel von einer Szene zur nächsten einfach eine Wand aus der Kulisse verschwindet, ist dies nicht das Werk eines Kino-Exzentrikers, es geht Resnais vielmehr darum, seine Darsteller richtig im Raum zueinander positionieren zu können - und das ist ihm schlicht wichtiger als irgendeine dumme Mauer. Auch wenn er eine Wohnungsbesichtigung so von oben herab filmt, dass man die Zimmer klar als bloße Kulissen ausmachen kann, geht es ihm einmal mehr nur um das perfekte Harmonieren seiner Figuren. So mischt Resnais wirkungsvoll die Mittel von Film und Theater, nutzt alle Freiheiten des Kinos, um die Geschichten weiter zu würzen, ohne dabei die Bühnenherkunft vergessen zu machen.
Die Besetzungsliste von „Herzen“ liest sich wie bei fast jedem Film von Resnais einmal mehr wie das Best-Of der französischen Schauspielzunft. Neben seinen altgedienten Weggefährten Sabine Azéma (Malen oder Lieben), André Dussollier (Lemming, Mathilde - Eine große Liebe), Pierre Arditi und Lambert Wilson (Matrix Reloaded, Catwoman) haben mit Laura Morante (Das Imperium der Wölfe, Der Obrist und die Tänzerin) und Isabelle Carré (In His Hands, Holy Lola) zwei weitere Stars des französischen Kinos ihren Weg in Resnais ehrenvollen Darsteller-Zirkel gefunden. Gemein ist ihnen, dass es ihnen allesamt gelingt, ihre Charaktere als perfekte Mischung aus Theater- und Filmfiguren zu spielen. Ohne die extreme Künstlichkeit der Bühne, aber dennoch mit einem über das normale Kinomaß hinausgehenden Ausdruck wirken die Darstellungen natürlich, ohne dass dabei ihre Herkunft verraten wird. Als kleines Schmankerl am Rande gibt es noch den urkomischen Auftritt von Altmeister Claude Rich (Der Hals der Giraffe), der Arthur, von dem man den gesamten Film hindurch nur die Beine zu sehen bekommt, seine Stimme leiht – charmanter hat im Kino wohl noch niemand mit wirklich hässlichen Beleidigungen um sich geworfen.
Da sich der Titel von Ayckbourns Bühnenstück „Private Fears In Public Places“ nicht getreu ins Französische übersetzen lässt, musste Resnais einen neuen Namen für seinen Film finden. So begann er zunächst damit, jedem einzelnen Protagonisten des Stücks passende Titel zuzuordnen – es wurden insgesamt stolze 104. Immer wieder tauchte dabei, mit verschiedensten Adjektiven versehen, das Wort „Herzen“ auf. Und es ist offensichtlich, warum schließlich der uneindeutige Begriff „Herzen“ ohne jeden Zusatz das Rennen gemacht hat. Egal ob verbrannte, einsame, verlorene, suchende, traurige oder vergessene Herzen, keiner dieser speziellen Titel wäre für sich alleine der ungeheuren Komplexität und emotionalen Fülle des Films auch nur im Ansatz gerecht geworden.