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    Coraline
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    4,5
    hervorragend
    Coraline
    Von Jan Hamm

    Als Lewis Carroll 1865 „Alice im Wunderland“ schrieb, hatte er vor allem eine Kindergeschichte im Sinn. Und doch nahm er mit seiner Erzählung intuitiv vorweg, was zur Dämmerung der Psychoanalyse um die Jahrhundertwende eine neue Phase menschlicher Selbstwahrnehmung einläuten sollte: die These des Unbewussten. Seine Fantasie des kleinen Mädchens, das durch einen Kaninchenbau in die Urgründe der eigenen Seele eintaucht, reicht mit ihrem Spagat zwischen Märchen und LSD-Trip weit über die Kinderzimmer hinaus und gilt inzwischen als eigenes, nahezu mythisches Kunstmotiv. Carrolls Roman wurde seit dem gleichnamigen Stummfilm von 1903 nicht bloß gefühlt zahllose Male adaptiert, sondern ebenso frei interpretiert – so etwa in Guillermo Del Toros Pans Labyrinth oder Terry Gilliams Tideland. Mit „Coraline“ erliegt jetzt auch Henry Selick (Nightmare Before Christmas) der ungebrochenen Faszination des Stoffes. Als ergiebiger Inspirationsquell diente ihm eine Romanvorlage der Fantasy-Koryphäe Neil Gaiman. Dank fabelhafter Optik, einem präzisen Erzählstil und surrealem Gruselflair ist Selick ein Stop-Motion-Meisterwerk gelungen, das keinen Vergleich im großen Kosmos Alice-affiner Werke zu scheuen braucht. Besonders genial: „Coraline“ lädt sein erwachsenes Publikum neckisch dazu ein, die eigene Adoleszenz-Erfahrung aufzusuchen.

    Die 11-jährige Coraline ist stinksauer. Nicht bloß musste sie ihre Freunde in der Stadt zurücklassen, nein! In der Einöde um das alte Landhaus, das ihre arbeitswütigen Autoren-Eltern zur ungestörten Fertigstellung eines eiligen Kataloges bezogen haben, hat sie bald jeden Stein umgedreht und langweilt sich zu Tode. Daran ändert auch der ohne Punkt und Komma daherplappernde Nachbarsjunge Wybie nichts. Als Coraline aber einer kleinen Maus hinterherjagt, stößt sie mitten im Anwesen auf eine Geheimtür und schlüft abenteuerlustig hindurch. Auf der anderen Seite erwartet sie die Welt, wie sie sein sollte: Eine „andere“ Mutter, die die tollsten Speisen auf den Tisch zaubert, ein „anderer“ Vater, der einen ganzen Garten zum gewaltigen Coraline-Porträt umgestaltet, und ein „anderer“ Wybie, der endlich mal die Klappe hält. Dass diese „Anderen“ Knöpfe anstelle der Augäpfel tragen, fällt da erstmal kaum ins Gewicht. Solange zumindest, bis das begeisterungstrunkene Mädchen auf einen sprechenden Kater trifft, der ihr konspirative Warnungen zuraunt. Was es damit auf sich hat, wird schlagartig klar, als ihre „anderen“ Eltern ihr ein Geschenk machen. Der Inhalt? Nadel, Faden und zwei schwarze Knöpfe...

    Alice heißt jetzt Coraline, der Kaninchenbau ist zur Geheimtür geworden und die flauschige Grinsekatze zum struppigen Kater. Willkommen in Henry Selicks kongenialer Version des Carroll-Klassikers. „Coraline“ ist eine tiefgründige Coming-Of-Age-Geschichte, die symbolstark von der schwierigen Suche eines Kindes nach seinem Platz in der Welt erzählt. So empathisch die Kleine begleitet wird, so wenig schreckt Selick davor zurück, den gleichermaßen kindlichen und kindischen Narzissmus der Heroine herauszuarbeiten. Denn diese „andere“ Welt hinter der Geheimtür ist vor allem eine Welt, in der sich alles nur um Coraline dreht. Hier kompensiert sie die Verlassenheit, die sie ihren Workaholic-Eltern anlastet, ins gegenteilige Extrem. Alle Missstände scheinen aufgehoben, doch das hat seinen Preis.

    Will sie die Nesterfahrung der frühesten Kindheit zurückerlangen, muss sie ihr Augenlicht aufgeben. Immerhin: Im Mutterleib kam sie auch ohne aus. Selber zu sehen, zu analysieren, zu durchschauen – das sind Kompetenzen, die sie befähigen, sich einen Platz in der realen Welt zu suchen und zu akzeptieren, dass ihre Eltern sie auch ohne Dauerbespaßung lieben - kurz: erwachsen zu werden. Mit einem effektiven Trick macht „Coraline“ die regressive Versuchung greifbar. Denn diese „andere“ Welt ist schlicht und ergreifend atemberaubend. Die eigenwilligen Designs sind kreativ und bunt, aber nie infantil. Selick lädt auch sein erwachsenes Publikum ein, gemeinsam mit Coraline Bauklötze zu staunen und Ehrfurcht zu erleben, so dass an der Attraktivität der „anderen“ Realität zu keinem Zeitpunkt Zweifel aufkommen.

    Rund 450 Animateure und Modellierer arbeiteten an der Realisierung der form- und farbenfrohen Vision, die nur selten und dezent auf CGI-Unterstützung zurückgreift und so einen zeitlosen Charme versprüht. Besonders gelungen sind dabei die surrealen Momente, etwa wenn die Traumwelt im Showdown gegen die hexenhafte Übermutter, die letztendlich nichts anderes als Coralines eigenes Kind-Alter-Ego ist, zu zersplittern beginnt. Der finale Akt gewinnt durch die Überformung niedlicher Figuren ins Groteske eine bedrohliche Atmosphäre, die einem besonders jungen Publikum allerdings einen gehörigen Schreck einjagen dürfte.

    Hier erinnert der Film dann auch an die Gothic-Ästhetik von Nightmare Before Christmas, Selicks frühere Stop-Motion-Referenz, deren hohes Niveau er mit seiner aktuellen Schöpfung problemlos hält. „Coraline“ überzeugt nicht nur mit makelloser Technik und einer intelligenten Geschichte, sondern macht vor allem einfach Spaß. Die Titelheldin - in der Originalfassung hinreißend von Dakota Fanning (Die Bienenhüterin, Krieg der Welten) vertont – ist so liebenswürdig frech, dass sie die Sympathien des Publikums gleich zu Beginn in der Tasche hat. Knetfigur hin oder her, daran wird Mia Wasikowska sich messen lassen müssen, wenn sie 2010 als Protagonistin in Tim Burtons Alice In Wonderland durch den Kaninchenbau hüpft!

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