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    Rückkehr in die Normandie
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    4,0
    stark
    Rückkehr in die Normandie
    Von Anna Lisa Senftleben

    „Dieser Film beruht auf einem anderen: jenem, den René Allio 1975/76 auf der Grundlage eines authentischen Mordfalles aus der Normandie und eines Buches von Michel Foucault gedreht hat: ‚Ich, Pierre Rivière, habe meine Mutter, meine Schwester und meinen Bruder umgebracht‘…“

    Reisen kann man zu Fuß, mit dem Auto, dem Flugzeug, einem Schiff oder auch mal einem Heißluftballon. Es gibt Geschäftsreisen, Pilgerreisen, Entdeckungsreisen, Forschungsreisen und simple Urlaubsreisen. Der Mensch reist, um sich zu erholen, andere Kulturen kennen zu lernen, sich zu bilden oder ganz einfach von einem Ort zum anderen zu kommen. Und manchmal reist er in die eigene Vergangenheit... Von solch einer Reise ins Zurück erzählt nun auch Nicolas Philiberts („Sein und Haben“) Dokumentation „Rückkehr in die Normandie“, die ihn und den Zuschauer an den Entstehungsort eines über 30 Jahre alten Films von René Allio („Die unwürdige Greisin“) führt: Das überwiegend mit Laien besetzte Drama „Ich, Pierre Rivière, habe meine Mutter, meine Schwester und meinen Bruder umgebracht“ feierte 1976 Premiere und wurde ein Jahr bei der Berlinale mit dem Kritikerpreis „Interfilm Award“ ausgezeichnet.

    Auf der Grundlage eines über 140 Jahre zurückliegenden authentischen Mordfalls, den Schriften des Mörders und dem Roman von Michel Foucaults zu diesem Thema drehte Allio ein ethnologisches Dokument, das nicht nur die Hintergründe des Verbrechens vermittelte, sondern auch präzise Einblicke in das französische Landleben des 19. Jahrhunderts ermöglichte. Während die Richter, Anwälte, Ärzte und Psychologen mit professionellen Schauspielern besetzt wurden, übernahmen die Bauern der Region die Rollen des Pierre Rivières, seiner Familie, der Nachbarn sowie der Zeugen des Mordes. Nicolas Philibert hatte 1970 als Allios Praktikant bei „Aufruhr in den Cervennen“ angefangen und war bei „Ich, Pierre Rivière, …“ bereits zum Regieassistenten aufgestiegen. Rene Allio war ein – zu Unrecht ein wenig in Vergessenheit geratener - Vertreter der Nouvelle Vague, weshalb er selbstverständlich auch auf die Markenzeichen dieser künstlerischen Bewegung zurückgriff: Improvisation und Experimentierfreude! Genau diese beiden Zutaten finden sich nun auch in Philibert „Rückkehr in die Normandie“ wieder. Die Ideen für den Aufbau des Films kamen teilweise erst während der Dreharbeiten und die Gespräche mit den Beteiligten wurden meist improvisiert.

    Die Rückkehr an die Drehorte von damals beginnt auf einem Bauernhof mitten in der Normandie. In einer minutenlangen Sequenz zeigt Philibert eine Schweinegeburt. Die Kamera fungiert an dieser Stelle als geduldiger Beobachter des alltäglichen Landlebens. Der Landwirt Joseqphand Leportier, der vor mehr als 30 Jahren in Allios Film in die Rolle des Vaters schlüpfte, zieht nun Schweinebabys die Zähne. Auch wenn sich „Rückkehr in die Normandie“ in erster Linie um die Suche nach den Wurzeln eigener Erinnerungen dreht, wechselt die Dokumentation häufig ihre Themen. Mal geht es um die Dreharbeiten von damals, mal um die heutigen Probleme und Sorgen der früheren Laiendarsteller, mal um das Landleben an sich. So fällt es schwer, vorauszusagen, welche Thematik als nächstes angeschnitten wird. Philibert erläutert dies folgendermaßen: „Das ist das Ergebnis seiner fragmentarischen Natur, der unterschiedlichen Zeitebenen und der verwendeten Materialien. Da der Film mehrere Geschichten parallel erzählt, reflektieren sie einander, vermischen und bereichern sich gegenseitig.“

    Für Philibert sind die Dreharbeiten zu Allios Film Ausgangspunkt und Zentrum seiner Dokumentation, aber nicht deren Ende: „Sie sollte auch andere Fragen reflektieren. Über das Kino, über unsere Welt, über unsere Beziehungen mit anderen, zu unseren Vätern…“ Aufgrund dieser Vorgehensweise hat „Rückkehr in die Normandie“ etwas Essayistisches an sich und wird durch oft zufällig wirkenden Begegnungen und Sequenzen bestimmt, die den Film und den Zuschauer immer wieder in eine andere, unerwartete Richtung lenken. So gelingt es, einem der häufigsten Probleme des Dokumentargenres zu entgehen: Oft versteifen sich Dokus so sehr auf ihr Thema, dass sie weder nach links noch rechts schauen. Philibert greift hingegen alles dankbar auf, was er am Wegesrand entdecken kann: „Gegenwart und Vergangenheit, Gedächtnis, Verrücktheit, das Schreiben, die Rede, Krankheit, der lauernde Tod, vorrübergehende Zeit, das Gesetz, die Übertragung …Der Film betrifft all jene Dinge und viele andere, die einfach nicht voneinander zu trennen sind.“

    So aufwendig sich vor 30 Jahren die Suche nach geeigneten Darstellern gestaltete, so schwierig ist heute das Auffinden des Protagonisten von damals: Claude Hébert, der den Pierre spielte, bleibt lange unauffindbar. Philibert begibt sich auf dessen Spuren und entdeckt bei seiner ganz persönlichen Rückkehr in die Normandie auch ein Stück seiner eigenen Vergangenheit wieder. Allios und Philiberts Projekt drohte bis kurz vor Drehbeginn nicht zuletzt aufgrund von finanziellen Engpässen zu scheitern. Die intensiven gemeinsamen Erfahrungen von damals, die das ganze Team zusammengeschweißt haben, spiegeln sich auch in der einfühlsamen Darstellung der Beteiligten und ihrer Familien in Philiberts Dokumentation wider. Auch den Zuschauern, denen Allios Film nicht bekannt ist, eröffnet sich so ein anziehender und interessanter Einblick in die Geschehnisse von damals und heute.

    Fazit: „Rückkehr in die Normandie“ spricht nicht ausschließlich ein cineastisch vorbelastetes Publikum an, sondern sollte jedem gefallen, der eine gewisse Affinität für den essayistischen Dokumentarfilm mitbringt. Liebevoll und charmant ist nicht nur die die Darstellung der Protagonisten, sondern die gesamte Machart des Films. Beispielsweise stammt die wundervolle Musik von André Veil, Philiberts Großvater mütterlicherseits, der sich normalerweise als Industrieller in Lorraine betätigt und sich nur ab und zu als Amateurkomponist versucht. Die Annäherung an das Thema Erinnerung ist Philibert mit seiner persönlichen, offenen Art auf erfrischende, luftig-französische Weise gelungen.

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