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    Ganz oder gar nicht
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    4,5
    hervorragend
    Ganz oder gar nicht
    Von Jens Hamp

    Die Traumfabrik lebte in den Neunzigern kurzzeitig in der Illusion, dass man für Anerkennung und finanzielle Erfolge auf einer Bühne tanzen und sich dabei entblößen müsse. Demi Moore entledigte sich in „Striptease“ ihrer Kleider und erntete neben der damals für eine Frau astronomischen Gage von 12,5 Millionen Dollar auch noch zwei Goldene Himbeeren. Paul Verhoeven hatte nach dem anheizenden Basic Instinct großen Rückenwind und setzte seine sich stets entblätternden Showgirls gehörig in den Wüstensand von Las Vegas. Auch für ihn gab’s neben einer stattlichen Gage zum Trost eine Goldene Himbeere. Dass man mit einem freizügigen Konzept aber auch Erfolg beim Publikum und den Kritikern haben kann, mussten die Produzenten aus Hollywood erst von den Briten lernen. Diese gingen nämlich einen komplett anderen Weg. Weil den weiblichen Strippern immer noch etwas Anrüchiges anhing, erzählte der Kinodebütant Peter Cattaneo von arbeitslosen Stahlarbeiten, die ihren Kontostand mit einer einmaligen Stripshow aufbessern wollen. Neben einem fulminanten Erfolg an den Kinokassen (weltweites Einspielergebnis 258 Millionen Dollar bei gerade einmal 3,5 Millionen Dollar Produktionskosten) musste die Verleihung der Goldenen Himbeeren diesmal aus weiter Ferne beobachtet werden. Man kann schließlich nicht alles haben. Als kleine Entschädigung gab’s für „Ganz oder gar nicht“ dann aber neben drei Oscar-Nominierungen auch eine Auszeichnung mit dem heiß begehrten Goldjungen für die Beste Filmmusik.

    In Sheffield - einst goldene Metropole der Stahlindustrie – herrscht nunmehr die wirtschaftliche Rezession. Auch Gaz (Robert Carlyle, 28 Weeks Later, Trainspotting) ist einer der zahlreichen Arbeitslosen, der ein aussichtsloses Dasein zwischen Stempeln gehen, Sorgerechtsstreitigkeiten und Rumgammeln mit Kumpel Dave (Mark Addy, Ritter aus Leidenschaft) fristet. Einen Hoffnungsschimmer am Horizont erkennt er erstmalig, als die Chippendales in seiner verschlafenen Heimatstadt Halt machen. Der örtliche Pub ist plötzlich bis zum Bersten mit kreischenden Frauen gefüllt. Was die Amerikaner können, können waschechte britische Stahlarbeiter doch schon lange. Mühsam rauft sich eine sechsköpfige Truppe zusammen und bereitet sich auf den alles entscheidenden Abend vor. Dann wollen die hühnerbrüstigen, dickbäuchigen oder angegrauten Briten alle Hüllen fallen, um den Frauen zu zeigen, was richtige Männer sind…

    In den Neunzigern etablierte sich auf den britischen Inseln eine neue filmische Herangehensweise an die Probleme der Working Class. Während Ken Loach (The Wind That Shakes The Barley, Sweet Sixteen) und Mike Leigh (Vera Drake) ihre Portraits der Arbeiterklasse zumeist ausweglos und deprimierend gestalteten, gesellten Filme wie „Brassed Off“ und die Barrytown-Trilogie (The Commitments, „The Snapper“ und „Fish & Chips“) ein komödiantisches Element zu den gewohnt betrüblichen Ausgangssituationen. Trotz aller humoristischer Aspekte werden die Figuren dabei aber niemals zu Witzfiguren degradiert und ihre Schwierigkeiten nicht als simple Staffage auf der Suche nach dem nächsten Gag ausgenutzt. Es sind stets lebensnahe Charaktere, deren niederschlagende Arbeitssituation man nie aus den Augen verliert. Auch das Drehbuch zu „Ganz oder gar nicht“, geschrieben von Simon Beaufoy („Über kurz oder lang“), entblößt seine Charaktere nicht, wenn sie aufgrund ihres Gewichtes Komplexe haben oder versuchen, nach außen immer noch den Anschein eines fleißigen Arbeiterlebens zu wahren. Sicherlich führen diese „Charakterschwächen“ und das äußerst ungeschickte Auftreten beim Tanztraining häufig zu komischen Momenten, doch man lacht stets mit Gaz und seinen Kumpanen – und niemals über diese.

    Den leichtfüßigen Charme des Films prägen zudem die Oscar-honorierten Kompositionen von Anne Dudley. Sie spielt mit klassischen Komödienmusikthemen und schafft dabei den Spagat zwischen Leichtigkeit und Schwermut. Zum Brüllen komisch wird es dann, wenn die alten Kamellen mit ins Spiel kommen. Wenn die ungelenken Stahlarbeiter ihre Tanzchoreographie zu Hot Chocolates „You Sexy Thing“ ausarbeiten, spielt „Ganz oder gar nicht“ seine komischen Aspekte vollends aus. Ohne jegliches Taktgefühl entledigen sich die männlichen Stripper ihrer Kleidung und hauen sich gegenseitig die „kunstvoll“ geöffneten Gürtel um die Ohren. Das Gleichgewicht suchend hüpfen sie herum, wenn sie aus den Hosenbeinen schlüpfen, und nutzen dabei Fußballtermini, um die Choreographie abzustimmen. Angespornt von Jennifer Beals mangelhaften Schweißfähigkeiten in „Flashdance“ lernt die zusammengewürfelte Tanzgruppe jedoch schnell und tanzt bald gar unterbewusst in der Schlange auf dem Arbeitsamt zu Donna Summers „Hot Stuff“ – eine Szene, die fast schon legendär ist und mit Prince Charles zu dessen 50. Geburtstag nachgespielt wurde.

    Trotz aller dramaturgischen Pannen machen die Schauspieler bei ihren Stripversuchen aber eine richtig gute Figur. Mit unüberhörbarem Sheffield-Slang ist Robert Carlyle ein perfekter Arbeitsloser, während sich Mark Addy auf seine gutmütige und stets bedröppelte Art wunderbar als bester Freund qualifiziert. Zum geheimen Star mauserte sich allerdings der mittlerweile zweifach Oscar-nominierte Tom Wilkinson (für In The Bedroom und Michael Clayton). Als stocksteifer Gerald erklärt sich der britische Charaktermime (Geliebte Lügen, Cassandras Traum) mit verknöcherter Miene nur aus Schadenfreude bereit, die Tanzschritte zu lehren. Doch langsam taut die spießige Figur auf. Mit immer größerer Freude engagiert er sich und wird bei diesem „Reifeprozess“ immerzu liebenswert und glaubhaft von Wilkinson verkörpert.

    Keine Jobs. Kein Geld. Keine Unterwäsche. - „Ganz oder gar nicht“ ist sicherlich keine klassische Komödie, in der sich ein Schenkelklopfer an den nächsten reiht. Peter Cattaneos Kinodebüt ist wesentlich mehr. Die Probleme der Arbeitslosen werden nie ausgeblendet. Diese eigentlich dramatische Situation wird mit herzerfrischenden Pointen vermengt und dank der sympathischen Stahlarbeiter zu einem derart charmanten Gesamtbild zusammengefügt, dass sich „Ganz oder gar nicht“ ohne Umweg ins Herz des Zuschauers strippt.

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