"Stand By Me" mit einem blutrünstigen Monster im Wald
Von Jochen WernerVom Umzug in die kleine, fundamentalistische Sektengemeinde St. Belvedere ist die 14-jährige Emerson (Summer H. Howell) verständlicherweise wenig begeistert. Auch das Beisammensein mit ihrem jähzornigen Vater Julian (Greg Bryk) und ihrer schwangeren – und darüber hinaus den Launen ihres Gatten gegenüber überaus passiven – Mutter Anna (Michelle Monteith) in einem abgelegenen Haus am Waldrand verspricht mehr Konfliktpotenzial als Harmonie. Dafür bräuchte es die mutmaßlich übersinnlichen Wahrnehmungen gar nicht, die Emerson auch mal dazu bewegen, ins Lenkrad des fahrenden Autos zu greifen. Wirklich gruselig wird es allerdings erst danach, und zwar gleich in zweifacher Hinsicht: zunächst auf familiärer Ebene, als Papa Julian seine Teenagertochter mitten im Nirgendwo auf der Straße stehenlässt, obgleich diese beteuert, den Weg ins neue Heim nicht zu kennen. Und dann im Wald, wo Emerson ein seltsames Monster erscheint, halb Baumwesen, halb Mensch. Welchen Aspekt davon man erschreckender findet, bleibt der eigenen Bewertung überlassen.
Auch der erste Schultag verläuft nicht unbedingt positiv, und so wird Emerson zunächst einmal erwartbar zum Mobbingopfer. Rasch jedoch tut sie sich mit der ebenfalls als Außenseiterin skizzierten Delilah (Sarah-Maxine Racicot) zusammen. Und als diese ihr eine verborgene Höhle tief im Wald zeigt, spinnt sich Emerson eine Privatmythologie um dunkle Geister und mysteriöse Kräfte zusammen, die in allen Menschen schlummern und die sich durch eine Art okkultes Ritual heraufbeschwören ließen. Es entspinnt sich eine Erzählung, zusammengesetzt aus Motiven aus einem geliebten Comicheft und vielleicht einer tatsächlichen Beziehung Emersons zum Übernatürlichen. Wurde die vor kurzem verschwundene Schülerin tatsächlich von einem Puma gerissen? Oder lauert da nicht doch eine andere, sehr viel perfidere Gefahr für die jungen Frauen der Gemeinschaft im Wald? Das Regiedebüt der in Hamburg lebenden kanadischen Schauspielerin Carly May Borgstrom lässt da vieles offen, und das ist unbedingt als eine seiner Stärken zu betrachten.
Ansonsten ist nicht alles an „Spirit In The Blood“ wirklich geglückt, aber ob seiner unbestreitbaren Ambition ist man dem Film seine Schwächen durchaus zu verzeihen bereit. Insbesondere anfangs dauert es eine Weile, bis sich eine gewisse Sogwirkung einstellt. Zu sehr wie eine Variation des allzu oft schon beackerte Feldes des Coming-of-Age-Sektenhorrorfilms wirkt das über weite Strecken, inklusive der erwarteten Schablonen über patriarchale Strukturen in fundamentalistischen religiösen Gemeinschaften. Aber darin, Altbekanntes noch einmal so auszuerzählen, als sei es das erste Mal, erschöpft sich „Spirit In The Blood“ dann erfreulicherweise gar nicht. Eher reißt er die genannten Themen anfangs an und nutzt sie dann als Folie, auf die er eine eigenwilligere und gar nicht einmal so vorhersehbare Geschichte zeichnet. Denn Regisseurin und Autorin Borgstrom greift zwar auf allerlei Versatzstücke aus etablierten Genre-Narrativen zusammen, lässt ihren Film aber auf durchaus interessante und auch persönlich anmutende Weise in keinem davon komplett aufgehen.
Einen zentralen Fixpunkt dieser Bricolage-Technik hebt der deutsche Verleih recht stark hervor, wenn er „Spirit In The Blood“ mit dem Slogan „Stranger Things trifft Stand By Me“ bewirbt, und auch dieser Verweis ist gar nicht einmal falsch. Stephen-King-Appropriation meets Stephen King, so könnte man ihn umformulieren, und in der Tat lässt sich der rural-kleinstädtische Schrecken des großen Schriftstellers als Vorbild für Borgstroms kanadische Variation auf Kings abgründige Americana-Horrorgeschichten nicht von der Hand weisen. Und gerade hier fällt ihr Film dann auch ab, was aber im Grunde auch gar keine Schande ist, denn einen bedeutenderen Chronisten des amerikanischen Kleinstadtlebens und -sterbens als King muss man in der Weltliteratur ohnehin lange suchen.
Dafür nimmt Borgstroms Film einen anderen Dreh als viele King-Stoffe, denen ja nicht selten dann ein wenig die Luft ausgeht, wenn es gilt, sie nach zahlreichen Abschweifungen zu einem befriedigenden Ende zu bringen. „Spirit In The Blood“ wird aber zum Ende hin immer besser und interessanter und eigenwilliger, und eigentlich umgeht er sämtliche naheliegenden Fallen, das Geschehen in einem allzu eindeutigen Finale aufgehen zu lassen. Das macht ihn noch nicht zu einem rundum gelungenen Film, aber als sehenswertes Debüt einer begabten und ambitionierten Genre-Filmemacherin kann er ohne Weiteres bestehen.
Fazit: Es dauert ein wenig, bis „Spirit In The Blood“ den Anschein des Altbekannten ablegt und wirklich spürbar eigene Wege geht. Aber dann wird das Debüt der kanadisch-hamburgischen Regisseurin und Autorin Carly May Borgstrom zu einer überraschend ambitionierten und eigenständigen Variation auf allerlei bekannte Horrorfilm-Narrative. Am Ende ein sehenswertes Stück Coming-of-Age-Genrekino.
Wir haben „Spirit In The Blood“ im Rahmen des Filmfest Hamburg 2024 gesehen.