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    Phantosmia
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    3,5
    gut
    Phantosmia

    Fauliger Geruch überall

    Von Janick Nolting

    Lav Diaz, der früher auch gerne Filme mit einer Länge von neun Stunden und mehr gedreht hat, sich aber inzwischen meist mit vier bis fünf Stunden begnügt, hat ein weiteres interessantes Motiv gefunden, um sich den Schrecken seiner Heimat zu stellen. In seinem neuen Film „Phantosmia“, der auf den persönlichen Aufzeichnungen eines Militär-Majors basiert, nähert sich der philippinische Regisseur ein weiteres Mal den historischen Traumata des Inselstaates und nimmt dafür die menschlichen Sinne ins Visier. Was nicht mehr präsent ist, schleicht sich plötzlich mit dem Umweg über den Geruchssinn zurück in das Leben der Menschen. In Diaz’ Film taugt das erneut zu einer Reihe eindringlicher, stilsicher inszenierter Beobachtungen, wenngleich sich gewisse Abnutzungserscheinungen in seinem Erzählen auch dieses Mal nicht ganz aus der Welt schaffen lassen.

    Der Geruch will einfach nicht verschwinden. Hilarion Zabala (Ronnie Lazaro) war einst ein berühmter Ranger im Militär, doch die Eindrücke von einst lassen ihn nicht mehr los. Jahre später verströmt die Welt für ihn einen fauligen Gestank, als würde sie von innen heraus verrotten. Eine Psychiaterin vermutet dahinter eine Phantosmia, eine olfaktorische Halluzination, die im Rahmen einer posttraumatischen Belastungsstörung auftreten kann. Also wird es Zeit für Zabala, sich seiner Vergangenheit (und der seines Landes) zu stellen…

    Hilarion Zabala (Ronnie Lazaro) war einmal der meist ausgezeichnete Scharfschütze des Militärs. Ten17P
    Hilarion Zabala (Ronnie Lazaro) war einmal der meist ausgezeichnete Scharfschütze des Militärs.

    „Phantosmia“ entfaltet seine Erzählung aus einer Reihe von Selbstinszenierungen und spielerischen Selbstversuchen. Hilarion wird als Therapie vorgeschlagen, er solle erneut in die Welt eintauchen, die ihn einst so traumatisiert hat, also bewirbt er sich als Aufseher in einer Gefangenenkolonie auf einer kleinen Insel. Dort mimt der Protagonist zunächst noch den Starken, während er als psychotherapeutische Hausaufgabe zugleich seine Erinnerungen zu Papier bringt, die dann über ein Voice-over hörbar werden. Das ist nur passend und repräsentativ für Diaz’ Regiearbeiten, die derlei Schauspielereien und Ausformungen immer wieder in unterschiedlichen Konstellationen vorgeführt haben.

    Die überwiegend statischen Tableaus seiner Filme haben selten einen Hehl aus ihrem Eindruck der latenten Künstlichkeit und Selbstdarstellung gemacht, der mit dem dokumentarischen, geduldigen Eintauchen in Räume und Zustände verschmilzt. Das Theatrale, das auf diesen Bühnen im Dschungel, am Meer, in und zwischen alten Hütten und Häusern stattfindet, ist als solches offen markiert. In den letzten Jahren haben dabei vor allem das Musical „In Zeiten des Teufels“ und „History Of Ha“ deutlich selbstreflexive Züge hinsichtlich der eigenen Form angenommen. In dem einen wird die Kunst zum Zwang ewiger gesungener Wiederholungsschleifen, in dem anderen hadert ein Puppenspieler und Bauchredner mit seiner künstlerischen Stimme und Verantwortung.

    Ein Film der Maskeraden

    In diesem neuen Film ist es nun vor allem das Element der Maske, das der Regisseur hervorhebt. Das meint etwa das Tuch, das sich Hilarion Zabala vor das Gesicht gebunden hat, um den eingebildeten Geruch fernzuhalten. Da ist die Gesichtsbemalung seines Sohnes, der sich mit weißem Gesicht und wenigen schwarzen Akzenten in ein Schreckgespenst verwandelt hat und mit seinem Vater kein Wort mehr wechselt. Menschen bauen einen Schutz zwischen sich und der Welt, wenngleich er im Falle des Protagonisten wenig ausrichten wird. Die Konfrontation mit den eigenen Taten wird, wie so oft bei Lav Diaz, erneut zu einer fortgesetzten Gewalt führen.

    Man muss zu der Rahmung dessen wahrscheinlich nicht mehr viele Worte verlieren. Inzwischen dürfte den meisten potenziellen Zuschauern bekannt sein, dass die Filme des Regisseurs, die in aller Regel nur auf Festivals laufen, konventionelle Dimensionen sprengen. Zwar zählt „Phantosmia“ mit vier Stunden Länge nicht zu den umfangreichsten Werken des Regisseurs, doch das Miterzählen der Zeit und das Spiel mit der Dauer der Einstellungen rücken selbstverständlich auch dieses Mal in den Mittelpunkt seiner Ästhetik. Auch wenn man sagen muss, dass ihm dies schon radikaler und vielschichtiger komponiert gelungen ist. Davon abgesehen, dass man kaum müde werden sollte, die Vorzüge der Raffung und Verdichtung, die Diaz in seinem „When The Waves Are Gone“ angestellt hat, zu loben. Der bildgewaltige Rachefilm bleibt weiter der Höhepunkt seines Schaffens der vergangenen Jahre, an den auch „Phantosmia“ nicht heranreicht.

    Reyna (Janine Gutierrez) wird von ihrer Adoptivmutter gegen ihren Willen prostituiert – und Zabala muss das von seinem Posten in nur 100 Metern Entfernung hilflos mit ansehen. Ten17P
    Reyna (Janine Gutierrez) wird von ihrer Adoptivmutter gegen ihren Willen prostituiert – und Zabala muss das von seinem Posten in nur 100 Metern Entfernung hilflos mit ansehen.

    Was also kann man von Diaz noch erhoffen? Zum einen die ungebrochene Raffinesse seiner Naturbilder, die bei ihm immer auch einer Form von Mythos nachspüren oder auch eine betonte Banalität und Gleichgültigkeit bergen. Oder auch in der Inszenierung von Gewalt, dieses Mal besonders in dem brutal kontrastierten Auftakt, der eine paradiesisch beschriebene Siedlung mit nur einem Filmschnitt in ein brennendes, mit Leichen übersätes Höllenszenario verwandelt. Zudem besitzt es immer noch einen Reiz, wie die schwarz-weißen Aufnahmen immer wieder die Grenzen zwischen Realität, Traum, Gegenwart und Vergangenheit aufheben. Alles steht gleichwertig, kaum trennbar nebeneinander.

    Wann kehrt die Poesie zurück?

    Wo „Phantosmia“ jedoch am deutlichsten schwächelt, ist die Distanz zu seinem Protagonisten. Hilarion gerät gleich im doppelten Sinne aus dem Blickfeld und verkommt weitgehend zum stillen Beobachter der Gewalt und Lebensumstände in einer eingezäunten Insel-Kolonie, an der Diaz auch das Publikum über Stunden hinweg teilhaben lässt. Zwar gelangt der Film über dieses Beobachten zur finalen Selbstkonfrontation rund um Pflichten und Verantwortung des Einzelnen. Doch man wird den Eindruck nicht los, dass ihm hier ein wenig die Ideen ausgehen, solche Entwicklungen abseits von erklärenden Monologen und einer wiederholt eingefangenen Isolation der Figur greifbar werden zu lassen.

    Ist es nun richtig, jemanden zu töten, um andere zu retten? Hat der Mensch überhaupt das Recht zum Töten? Diese Fragen stellt „Phantosmia“ und sucht nach menschlichen Grundkonstanten jenseits des spezifischen historischen Kontexts. Seine Parabel träumt von einer neuen Kunst, während die Figuren immer wieder von der Jagd nach einem sagenumwobenen Tier im Dschungel sinnieren. Lav Diaz findet dafür ein (für seine Verhältnisse) erstaunlich hoffnungsvolles Ende. Nur der ganz große filmische Zauber, den der Künstler im Laufe seiner grenzüberschreitenden Karriere wiederholt beschworen hat, offenbart sich dieses Mal nur in wenigen markanten Höhepunkten. Oder wie ein Dichter irgendwann im Film rezitiert und sein Auftritt ist einer jener Höhepunkte: „Ich warte und warte und warte, bis die Poesie zurückkehrt.“

    Fazit: „Phantosmia“ ist mit vier Stunden und fünf Minuten ein weiteres, üppig gedehntes Drama von Lav Diaz über die Suche nach Kunst, Erlösung, einer gesellschaftlichen Aussöhnung und Verarbeitung historischer Gewalterfahrungen. In seiner ästhetischen Gleichförmigkeit dürfte das Werk aber vor allem für Diaz-Komplettisten interessant sein. Für Neulinge hat der Regisseur bedeutend stärkere Werke inszeniert, die man als Einstieg in sein unbedingt entdeckenswertes Werk wählen sollte.

    Wir haben „Phantosmia“ beim Filmfest Venedig 2024 gesehen, wo er seine Weltpremiere gefeiert hat.

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