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    Boomerang
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    3,0
    solide
    Boomerang

    Iranisches Kino, wie man es selten sieht!

    Von Patrick Fey

    Es ist eine oft übersehene Tatsache: Das Kino beeinflusst auf einschneidende Weise unsere Wahrnehmung der Welt. Mehr noch, es beeinflusst unsere Wahrnehmung all jener Orte, die wir niemals persönlich zu Gesicht bekommen werden. Sicher, das Fernsehen und besonders auch YouTube, Instagram und TikTok mögen diesem Repräsentationsmonopol, das das Kino einst innehatte, ihre eigene Hyperrealität entgegenstellen. Das Unheimliche daran, wenn wir uns auf diese Weise ein Bild von etwas machen, das wir nicht selbst zu Gesicht bekommen haben, ist allerdings: Meist ist es im Nachgang unmöglich, die genauen Einflüsse zu benennen, die zu den Bildern führen, die wir unbewusst mit uns herumtragen. Oft geht diese innere Welt mit Vorurteilen einher, was dazu führt, dass wir uns wie vor den Kopf gestoßen fühlen, wenn das, was wir sehen, nicht mit dem übereinstimmt, was wir uns ausgemalt haben.

    Ob der Iraner Shahab Fotouhi bei seinem ambitionierten und zugleich disparaten Debütfilm „Boomerang“ von diesen Überlegungen geleitet wurde, lässt sich nur vermuten. Fest steht jedenfalls, dass das Teheran, das er uns hier präsentiert, dem Bild entgegensteht, das wir aus so vielen Filmen des iranischen Gegenwartskinos kennen. Unlängst schrieb Christian Horn im Filmdienst über die eigene Ästhetik, die sich im Spannungsverhältnis des iranischen Kinos mit seinen nirgends klar postulierten und dennoch wirkmächtigen Zensurregeln herausgebildet hat. Durch Gitter werde da oft gefilmt, und die Frauen müssten, entgegen tatsächlichen Gepflogenheiten, selbst dann Kopftuch tragen, wenn sie sich im Privaten befänden. Schließlich mache die Kinoleinwand das Private öffentlich und somit politisch.

    Minoo trägt kein Kopftuch – nicht ihr einziges Brechen mit Regeln. New Matter Films
    Minoo trägt kein Kopftuch – nicht ihr einziges Brechen mit Regeln.

    Von Gittern ist bei Fotouhi indes kaum etwas zu sehen, und auch des Kopftuches hat sich seine jugendliche Protagonistin Minoo (Yas Farkhondeh) entledigt. Stattdessen wehen ihr wiederholt die Spitzen ihrer langen Haare vor die Augen, die sie sich grün färben ließ. Vielleicht sind sie es auch, die dazu beitragen, dass ihr Blick zu Beginn des Filmes auf Keyvan (Ali Hanafian) fällt. Während die Ampel noch auf Rot steht, bemühen sie sich, den Blick aufrechtzuerhalten, sehen sich dann aber rasch doch wieder verstohlen um. Haben die Umstehenden ihren nicht erlaubten Flirt registriert? Kennen, das stellt sich alsbald heraus, tun sie einander nicht. Doch dies hindert sie nicht daran, den Rest ihres Weges Seite an Seite weiter zu spazieren. Es ist ein ungemein grünes Teheran, in dem sie die geschwungenen Parkwege entlangschlendern, während Minoo ihre kurzen Gedichte mit Keyvan teilt und damit bei ihm auf offene Ohren stößt. Poesie, die sei für ihn besonders schön, wenn sie sich in einem Atemzug rezitieren lasse. Wenn sie schnell ins Ohr gehe und im Gedächtnis bleibe.

    Regisseur Shahab Fotouhi präsentiert uns eine seltsam dekontextualisierte Welt mit seinem überraschend farbenfrohen und entpolitisierten Bild der iranischen Hauptstadt, das so im Gegensatz zu den oft düsteren, von Zensur geprägten Darstellungen steht. Die Kritik bringt das in eine gewisse Bredouille, insbesondere aus sogenannten westlichen Ländern. Denn wer diese offenkundige Leerstelle als solche kritisiert, nimmt automatisch eine bevormundende Haltung an und zwängt die iranischen Filmemacher*innen implizit in eine Rolle, der sie entsprechen müssen. Nein, nicht jeder iranische Film, der unter einer repressiven Regierung entsteht, muss sich gegen diese auflehnen, wenngleich auch ein Film wie „Boomerang“ als Akt des Widerstands verstanden werden kann. Dann jedenfalls, wenn er als Vision einer Zukunft verstanden wird, in der der hier ausgeklammerte politische Kontext (abgesehen von gelegentlichen Stromausfällen) nicht länger existiert. Gewissermaßen erschafft Fotouhi auf diese Weise eine doppelte Fiktion: da, wo sie das Narrativ, also das Erzählte, betrifft und dort, wo die realen Verhältnisse bis zur Unkenntlichkeit verschwiegen werden.

    Eine Großstadtsymphonie, die das explizit Politische ausklammert

    Stattdessen versucht sich dieses Debüt an einer Großstadtsymphonie, in der bald schon der Fokus von Minoo und Keyvan entzogen und sich einer weiteren Erzählperspektive angenommen wird. Teil dieser ist auch Minoos Mutter Sima (Leili Rashidi), deren Ehe zu Behzad (Arash Naimian) am Ende steht. Beide scheinen dies so zu empfinden, weshalb Behzad den Kontakt zu seiner Ex-Freundin aufnimmt, während Sima sich, ohne dies ihrem Mann mitzuteilen, auf die Suche nach einer neuen Wohnung begibt. Die Stärken in Fotouhis Drehbuch kommen insbesondere dann zum Tragen, wenn es sich auf Zweisamkeit konzentriert. Als Behzad etwa eine Zufallsbegegnung mit seiner Ex inszeniert, um diese nach Hause zu fahren, nur um dabei von ihr zu erfahren, dass sie nur noch selten an ihn denke. Warum sie sich ihrer so sicher sei, will er von ihr wissen. Nein, keineswegs sei sie sich ihrer selbst sicher. Nur seiner fühle sie sich absolut sicher, gibt sie nach einer extralangen One-Take-Szene zu Protokoll. An deren Ende verlangt sie nach einer Zigarette – vermutlich um die Macht, die sie noch über ihn verfügt, auszukosten.

    Das Auto beweist sich wiederholt als aktiv aufgesuchter Ort vermeintlicher Intimität. Ein Umstand, der nicht erst durch Filme wie Jafar Panahis „Taxi Teheran“ zur Konvention wurde (und die dessen Sohn Panah mit „Hit the Road“ fortführte). Minoo macht sich später im Gespräch mit ihrem Vater sogar lustig darüber. Gegen Ende des Filmes kommt Behzad auf das Gespräch mit seiner Ex zu sprechen. Wieder einmal ist Stromausfall, und er befindet sich allein mit seiner Frau auf dem Sofa. Es ist eine der stärksten Szenen des Filmes, die uns aber auch lebhaft vor Augen führt, dass sich viele der ihr vorangegangenen Szenen nicht ganz einfügen wollen in das Gesamtbild. Minoo und Keyvan entpuppen sich bald schon als die am wenigsten interessanten Figuren der Geschichte, und bisweilen wirkt es fast so, als solle ihre Jugendlichkeit all die Leere ihrer Persönlichkeiten überstrahlen. Unterstrichen wird dies nur noch durch ihre Outfits, sehen doch beide so aus, als wären sie die H&M-Models der aktuellen Saison.

    Die Geschichte von Sima und ihrem Mann ist die deutlich Interessantere. New Matter Films
    Die Geschichte von Sima und ihrem Mann ist die deutlich Interessantere.

    Dies lässt sich auch dann freilich nicht übersehen, wenn man einmal akzeptiert, dass es sich in „Boomerang“ weniger um ein Abbild eines kontemporären Teheran-Panoramas als vielmehr um eine fröhlichere Vision eines solchen handelt. Die Ambition ist Shahab Fotouhi indes über die Laufzeit hinweg anzumerken, nicht zuletzt an einer regelrechten Inszenierungswut, die zur Folge hat, dass man bereits nach wenigen Szenen das Gefühl hat, man habe bereits sämtliche Shots, Kamerafahrten und Zooms gesehen. Nicht ungewöhnlich für ein Debüt, doch letztlich scheint es, als hätte weniger hier manchmal mehr sein können.

    Fazit: Shahab Fotouhis Debütfilm „Boomerang“ präsentiert ein Bild Teherans, das mit gängigen Darstellungen des iranischen Kinos bricht. Schwankend zwischen Großstadtsymphonie und intimen Zwiegesprächen bietet „Boomerang“ letztlich vor allem eine optimistische, wenngleich bisweilen überinszenierte Vision Teherans.

    Wir haben „Boomerang“ im Rahmen des Filmfest Venedig 2024 gesehen.

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