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    Cloud
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    4,5
    hervorragend
    Cloud

    Eine wahre Genre-Wundertüte und ein Muss für jeden Kinofan

    Von Björn Becher

    Als „japanischer Hitchcock“ wird Kiyoshi Kurosawa gerne bezeichnet – und es ist wohl unstreitig, dass der Meister des Suspense tatsächlich großen Einfluss auf den japanischen Regisseur hatte. Schließlich war schon dessen Debüt, der Erotikfilm „Kandagawa Pervert Wars“, eine Abwandlung von „Das Fenster zum Hof“. Auch bei seinem Meisterwerk „Cure“, mit dem Kurosawa 1997 der internationale Durchbruch gelang, kann man Hitchcock-Parallelen finden – auch wenn sie weniger offensichtlich sind. Doch auch wenn er immer mal wieder auf Hitchcock Bezug nimmt, ist es dem Regisseur laut eigener Aussage ungemein wichtig, nicht immer dasselbe zu machen.

    So tauchen zwar gewisse Stilelemente immer wieder auf, etwa lange Plansequenzen. Trotzdem ist jeder neue Film von Kiyoshi Kurosawa eine Überraschung. Das trifft besonders auf „Cloud“ zu, seinem bereits dritten Film im Jahr 2024 (nach der faszinierend-verstörenden Horror-Groteske „Chime“ sowie dem Remake seines eigenen Thrillers „Serpent's Path“). Der japanische Beitrag für die Oscars 2025 ist eine wahre Wundertüte, die bis zum Ende unerwartete Wendungen nimmt. Was zuerst wie ein geradezu sarkastisch anmutendes Sozialdrama beginnt, wandelt sich plötzlich zum Home-Invasion-Horror und endet als pechschwarze Action-Thriller-Satire. Und jeder einzelne dieser Abschnitte ist aufs Neue großartig.

    Art House
    Der Reseller Ryosuke Yoshii (Masaki Suda) greift zur Waffe, als ihm seine kritische Kundschaft auf den Pelz rückt.

    Tagsüber arbeitet er am Fließband in einer Großwäscherei. Aber die wahre Leidenschaft von Ryosuke Yoshii (Masaki Suda) ist das Wiederverkaufen von Dingen im Internet (sogenanntes Reselling): Stets ist er auf der Suche nach Preisfehlern im Internet oder raren Dingen, die er lokal günstig aufkaufen kann, um sie dann für ein Vielfaches über eine Online-Plattform zu veräußern. Gerade ist ihm mit dem Verkauf von fragwürdigen medizinischen Gerätschaften ein echter Coup gelungen, aber von seinem Traum, reich zu werden, ist er noch weit entfernt. Trotzdem lehnt er sowohl einen Einstieg in das neue Geschäft seines Schulfreunds und Reselling-Mentors Muraoka (Masataka Kubota) als auch die Beförderungsofferten seines Arbeitgebers Takimoto (Yoshiyoshi Arakawa) ab. Den Job in der Waschfabrik kündigt er sogar.

    Zugleich macht sich bei Yoshii ein Gefühl der Paranoia breit. War das über die Straße gespannte Drahtseil, das ihn vom Roller gehauen hat, tatsächlich für ihn bestimmt? Und wer klingelt spätabends ständig an seiner Tür? Kurzerhand verlässt er die Stadt und mietet mit seiner Freundin Akiko (Kotone Furukawa) ein Haus in der Natur. Dort will er mit mehr Lagerraum nun so richtig durchstarten. Aber ein verdächtiges Fahrzeug, ein eingeworfenes Fenster und plötzlich ums Haus schleichende Menschen bringen die Angst zurück. Und schließlich zeigt sich, dass seine Paranoia womöglich gar nicht so unbegründet war…

    Ein konstantes Rätselraten

    Von der ersten Sekunde an spielt Kiyoshi Kurosawa mit seinem Publikum. Ist dieser Ryosuke Yoshii ein cleverer Geschäftsmann, der geschickt sich ihm bietende Chancen nutzt, oder doch nur ein Betrüger, der andere schamlos ausnutzt? Sollen wir mit ihm auf die Erfüllung seines Traums hinfiebern oder auf seinen Absturz hoffen? Der von Masaki Suda („Assassination Classroom“) lange Zeit großartig nichtssagend-ausdruckslos verkörperte Protagonist ist gerade durch seine Ambivalenz und Unbestimmtheit so fesselnd. Ebenso bleibt lange Zeit offen, ob die Bedrohungen real oder eingebildet sind. Oder ist nicht sogar angebracht, dass ein Verkäufer von überteuertem, fragwürdigem Schund wie „Wunder-Therapiegeräten“ Angst davor hat, dass irgendwann mal die verärgerte Kundschaft bei ihm vorbeischaut?

    Der Meister der Anspannung bewegt sich in diesen Szenen natürlich auf dem ihm bestens vertrauten Parkett: Mit ausgiebigem Streichereinsatz erzeugt schon die Tonspur ein unheimliches Gefühl, welches die Bilder noch weiter verstärken. Immer wieder schauen wir mit Yoshii in die Dunkelheit und fragen uns, ob wir da gerade Bedrohungen sehen oder uns diese auch nur ausmalen, weil die bedrohliche Musik uns vermeintlich verrät, dass hier etwas Sinistres vor sich gehen muss. Einen auf den ersten Blick platten Jumpscare-Einsatz lässt Kurosawa zudem im Nichts verpuffen. Die ganze Inszenierung wirkt wie ein einziges augenzwinkerndes Katz-und-Maus-Spiel mit dem Publikum.

    Art House
    Plötzlich machen unheimliche Gestalten Jagd auf Yoshii.

    Achtung: Ab hier gibt es Spoiler zum tonalen Umschwung nach der ersten Stunde, ohne die man nicht vernünftig über den Film urteilen kann. Wen ihr den Film eh sehen wollt, schaut ihn euch vor dem Weiterlesen erst an und springt jetzt lieber direkt zum Fazit!

    Zudem arbeitetet der Regisseur immer wieder mit gnadenlosen Überzeichnungen: Wenn Yoshii das Gefühl bekommt, die ganze Welt habe sich gegen ihn verschworen, dann passiert das auch. So macht plötzlich ganz selbstverständlich und ohne allzu logische Erklärungen eine wild zusammengewürfelte Gruppe Jagd auf ihn – bestehend aus enttäuschten Online-Kunden, über Ohr gehauenen Handelspartnern, dem Ex-Boss und sogar einem alten Schulfreund. Zum Glück entpuppt sich im selben Moment der eigene Assistent Sano (Daiken Okudaira) als ehemaliger Yakuza, der es selbst nach seiner Entlassung als seine selbstverständliche Pflicht ansieht, seinen Kurzzeit-Arbeitgeber mit reichlich Feuerpower zu verteidigen.

    Ein ironischer Action-Kracher

    In der zweiten Hälfte wird „Cloud“ so plötzlich zu Kurosawas erstem Actionlangfilm seit seiner „Dirty Harry“-Zweiteiler-Hommage „The Revenge“ von 1997. Die blutigen Shootouts in einer verlassenen Fabrik inszeniert der Regisseur mit der von ihm bekannten Präzision. Hier entspannt sich kein wildes Feuergefecht. Stattdessen geht es um die Bewegung im Raum, die Suche nach der nächsten Position. Wenn es dann zur Konfrontation kommt, kann es auch mit wenigen Schüssen enden – oder etwas länger dauern, wenn Amateur Yoshii schließlich selbst zur Pistole greift. Großen Spaß macht es Kurosawa offensichtlich, mit der Kraft seiner Waffen zu spielen, so zum Beispiel zu zeigen, wie die Schrotflinte immer wieder ganze Blöcke aus einer Deckung reißt.

    Sowieso scheint Kurosawa bei „Cloud“ eine Menge Spaß gehabt zu haben – und der überträgt sich auch aufs Publikum. Der Film ist verdammt unterhaltsam, aber nichts passiert nur des Vergnügens willen. Hinter allem steckt eine Botschaft. Schon der Schauplatz des Finales scheint zum Beispiel ein Symbol für die kapitalismuskritische Stoßrichtung der satirischen Auflösung von „Cloud“ zu sein. Die bitterböse Schlusspointe der Action-Satire setzt dem Ganzen dann die Krone auf: Wenn es um Geld geht, kann man wirklich absolut niemanden auf dieser Welt vertrauen – außer vielleicht einem Yakuza...

    Fazit: Mit „Cloud“ schafft es Kiyoshi Kurosawa, immer wieder zu überraschen. Selbst nach 60 Minuten kann man unmöglich prognostizieren, welche Volten in den nächsten 60 Minuten noch geschlagen werden. Die Fähigkeit des Regisseurs, scheinbar unvereinbare Genre-Elemente zu einem kohärenten und fesselnden Ganzen zu verbinden, führt zu einem weiteren Höhepunkt in seiner ohnehin beeindruckenden Filmografie: Eine grandiose Action-Satire auf den Online-Kapitalismus sowie eine sich aus dem Netz in die reale Welt verlagernde Hasskultur. Aber das Beste daran bleibt, wie unglaublich unterhaltsam solche „schweren“ Themen hier verpackt sind.

    Wir haben „Cloud“ im Rahmen des Venedig Filmfestival 2024 gesehen.

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