Das Martial-Arts-Highlight des Jahres!
Von Christoph PetersenKowloon Walled City sieht aus, als hätte ein riesiges Monster ganz Hongkong verschlungen und dann auf einem Bruchteil der Fläche wieder ausgekotzt. Wenn man das Stadtviertel in „City Of Darkness“ zum ersten Mal sieht, könnte man glatt glauben, es mit einem dieser dystopischen Science-Fiction-Filme zu tun zu haben, in dem der arme Teil der Bevölkerung in gigantischen Mega-Slums zusammengepfercht wird. Aber die einstige chinesische Enklave wurde bereits 1993 abgerissen und der neue Film von Soi Cheang spielt sogar Ende der Achtziger. Damals war der von Triaden kontrollierte Komplex der Ort mit der höchsten Bevölkerungsdichte der Welt – mit 1,3 Millionen Einwohnern pro Quadratkilometer waren es etwa 320 (!) Mal so viele wie heutzutage in Berlin.
Es ist so ein gigantischer, unüberblickbarer Moloch, bei dem sich schon lange nicht mehr sagen lässt, wo ein Gebäude aufhört und das nächste anfängt. Alles ist in sich verwachsen, fast schon wie in einem der Animations-Meisterwerke von Hayao Miyazaki („Das wandelnde Schloss“). Überall hängen Kabel, von denen wahrscheinlich längst keiner mehr weiß, welches wohin führt. An jeder Ecke wird gekocht und selbst wenn die sanitären Bedingungen mehr als fragwürdig sind, läuft einem die ganzen 126 Minuten lang andauernd das Wasser im Mund zusammen. So einen Ort kann es doch gar nicht wirklich geben, da muss der „Mad Fate“-Regisseur doch maßlos übertrieben haben? Aber Pustekuchen, wie ein Blick auf Wikipedia zeigt!
Der aus China nach Hongkong geflüchtete Chan Lok Kwan (Raymond Lam) nimmt an illegalen Untergrundkämpfen teil, um sich gefälschte Ausweispapiere leisten zu können. Als er sich nach einem besonders überzeugenden Sieg weigert, fortan für den Triaden-Boss Mr. Big (Sammo Hung) zu arbeiten, wird er von diesem übers Ohr gehauen. Lok lässt sich das nicht bieten und stiehlt einen Sack voller Kokain. Auf der Flucht vor den Tiraden-Schergen landet er in Kowloon Walled City. Einer Stadt in der Stadt, in der die normalen Gesetze nicht gelten. Kontrolliert wird sie vom als Barbier arbeitenden Gang-Boss Tornado (Louis Koo), der dem unbedarften Neuankömmling erst eine Tracht Prügel erteilt und ihn dann unter seine Fittiche nimmt.
Die Bewohner*innen von Kowloon Walled City verdienen ihr Geld zwar mit Drogen und Prostitution, aber wer sich an die Regeln hält, der findet hier eine große Familie. Wer anderen hilft, der kann damit rechnen, dass auch ihm geholfen wird. Und Unterstützung kann Lok schon bald gut gebrauchen: Wie sich herausstellt, ist er nämlich nicht irgendwer, sondern der verschollene Sohn eines Mannes, der sich einst viele mächtige Feinde in Hongkong gemacht hat – und die sinnen selbst Jahrzehnte später nach blutiger Rache…
Der Schauplatz ist der Hammer – und alle, die am Design und der Ausstattung der Sets beteiligt waren, haben wirklich unglaubliche Arbeit geleistet. Alles ist eng und mit allem Möglichen vollgepackt, ein perfekter Ort also, um sich so richtig saftig durch ihn hindurch zu prügeln. Aber auch schon in den Minuten vor dem Betreten von Kowloon Walled City hat „Twilight Of The Warriors“ einiges zu bieten: Lok bestreitet seine Untergrundkämpfe nämlich nicht in irgendwelchen nichtssagenden Betonkellern, sondern auf der Tanzfläche einer Achtzigerjahre-Diskothek – und passend dazu trägt Mr. Bigs dauerkichernder Nr.1-Handlanger Vokuhila und Hawaiihemd. Kaum glaubt Lok, seinen Häschern entkommen zu sein, startet an Bord eines fahrenden Linienbusses die erste große Action-Sequenz – und die knallt trotz mitunter erkennbarer CGI-Unterstützung mächtig rein.
Soi Cheang macht, wie man es von ihm nicht erst seit dem knüppelharten „Limbo“ gewöhnt ist, keinerlei Gefangenen. So sieht es hier sehr schmerzhaft aus, wenn die abgeschüttelten Verfolger auf dem Asphalt aufschlagen und dabei ihre Gliedmaßen wie ein Ragdoll-Modell verdrehen. In Kowloon Walled City selbst gibt es dann zwischen all der Handkanten-Action auch erstaunlich viele humorvolle und sogar warmherzige Momente. Vom Wartezimmer des Arztes, wo doch alle nur sitzen, weil sie sich alte Pornofilme auf VHS ansehen wollen, bis zur Frau unter der Föhnhaube, die nach getaner Arbeit ihre Mithilfe beim Prügeln anbietet – die Pointen sitzen. Der Zusammenhalt der Bewohner*innen des Moloch-Klotzes geht unterdessen tatsächlich zu Herzen – und so webt Cheang in das Martial-Arts-Getümmel auch noch ein Hong-Kong-(Rache-)Melodrama alter Schule mit ein.
Louis Koo („The White Storm“) wird mit einer Szene eingeführt, in der er seine Zigarette fallenlässt, seinen Gegner wegtritt, und den Glimmstängel noch vor dem Aufschlagen auf den Boden wieder auffängt – saucool! Sammo Hung („Kill Zone S.P.L.“) braucht sowas natürlich gar nicht, da reicht schon das bloße Auftauchen der Leinwand-Legende für Szenenapplaus. Aber wenn die alten Recken den Staffelstab nach etwa zwei Dritteln endgültig an die nächste Generation weiterreichen, weiß diese die Chance zu nutzen – und wie!
Das große Finale hat es noch mal mächtig in sich – auch weil völlig aus dem Nichts und ohne dass die Figuren selbst groß überrascht scheinen, noch ein übersinnliches Element hinzukommt. Im Hongkong-Kino der Achtziger war sowas absolut üblich, aber heute ist man doch kurz irritiert, wenn sich der Vollstrecker des Bösewichts als quasi unverwundbar herausstellt und sogar Schwerter mit seinen Zähnen zerbricht. Aber hey, Soi Cheang liefert eben die ultimative Hommage ab, mit allem was dazugehört.
Fazit: Was für ein unfassbarer Schauplatz! „Limbo“-Regisseur Soi Cheang liefert mit „City Of Darkness“ vermutlich den Martial-Arts-Knaller des Jahres, der sich besonders für Fans der Goldenen Ära des Hong-Kong-Actionkinos der 80er als großes Geschenk erweist.
Wir haben „City Of Darkness“ beim Cannes Filmfestival 2024 gesehen.