+++ Meinung +++
Dass ich „Andor“ spätestens mit Folge 6 lieben gelernt habe, habe ich bereits in einem anderen Meinungsartikel erläutert, in dem ich auch auf die Probleme der vorherigen „Star Wars“-Filme und -Serien von Disney eingegangen bin. Nun möchte ich aber eine bestimmte Qualität von „Andor“ besonders hervorheben: Man kann es Realismus nennen, konsequentes Storytelling, das intelligente Unterlaufen von Erwartungen oder sogar Kaltblütigkeit. Alles Bezeichnungen, die mich auch an die frühen Staffeln von „Game Of Thrones“ erinnern.
Der ewig bemühte "Game Of Thrones"-Vergleich
Wenn ihr es satt habt, dass ständig bei jeder Gelegenheit „Game Of Thrones“-Vergleiche gezogen werden, dann kann ich euch verstehen. Aber die ersten paar Staffeln des Fantasy-Hits haben einfach in so vielen Bereichen neue Standards gesetzt und auch meine Erwartungen an Serien generell stark verändert. Seitdem suche ich stets nach neuen Geschichten mit detailliertem Worldbuilding, moralisch ambivalenten Charakteren und dieser „alles kann passieren“-Mentalität.
In „Game Of Thrones“ war man sich nie sicher, wer sterben würde. Erwartungen wurden ständig durchkreuzt und man hatte stets das Gefühl, das jede Entscheidung echte Konsequenzen hat, die eben nicht an unsterblichen Figuren und anderen Story-Mechaniken abprallen.
Die sechste Folge „Andor“ gab mir nun wieder all das. Mit Ausnahme des Titelhelden ist hier niemand wirklich sicher. Eine Rebellen-Crew verfolgt einen hochriskanten Plan und es ist von Anfang an klar, dass sie es nicht alle lebend da raus schaffen werden. Allein das versetzte mich während der gesamten Episode unter heftige Anspannung. Die mitreißende Inszenierung tat ihr Übriges, um mein Herz vollends zum Rasen zu bringen. Doch „Andor“ setzt noch einiges obendrauf.
Meine Erwartungen wurden in Folge 6 ständig durchkreuzt, und zwar nicht mit effekthascherischen Tricks, sondern durch realistische Unglücke, schicksalhafte Zufälle, den Verzicht auf Klischees und einer Enthüllung, die rückblickend betrachtet völlig offensichtlich scheint, die ich aber dennoch nicht kommen gesehen habe, weil mich die Autorenbrüder Dan und Tony Gilroy ganz geschickt manipuliert haben.
Im Folgenden erkläre ich euch anhand einiger Beispiele, was genau ich damit meine, aber Vorsicht, es folgen natürlich Spoiler!
"Andor": Es kommt immer anders, als man denkt
Nemik (Alex Lawther) hat sich innerhalb kürzester Zeit zu einer meiner liebsten „Andor“-Figuren entwickelt. Von Anfang an war mir sein Schicksal am wichtigsten. Hauptsache, er überlebt! Die „Andor“-Autoren waren sich dessen voll bewusst. Das merkt man daran, wie sie mit seinem Schicksal spielen. Nach dem Tod von Tarmaryn (Gershwyn Eustache Jnr) schien Nemik zumindest ein wenig sicherer. Schließlich gab es bereits ein obligatorisches Opfer und der junge Rebell war zu dieser Zeit schon relativ geschützt im Raumschiff.
Doch dann schickt uns „Andor“ durch ein Wechselbad der Gefühle. Als das Raumschiff abhebt, wird Nemik im ganzen Chaos von einem der Frachtwägen zerquetscht. Wir denken schon das Schlimmste: Ist er tot?
Nein, er lebt noch, doch dann sagt er: „Ich spüre meine Beine nicht...“ Mit diesem Satz scheint alles klar: Nemik ist querschnittsgelähmt, aber wird überleben. Wieso sonst würde er in diesem Moment ausgerechnet so eindeutig seine Lähmung als das Problem herausstellen?
Ich sah es schon vor mir: Nemik würde zum Stereotypen einer geistig hochbegabten Person mit körperlicher Behinderung werden, wie es sie in der Popkultur zuhauf gibt, von Bran Stark in „Game Of Thrones“ über Patrick Stewart in „X-Men“ bis hin zum humpelnden Dr. House. Es hätte sich angeboten, war Nemik doch der Intellektuelle der Rebellen-Gruppe, dessen schärfste Waffe sein Verstand war.
Doch nix da: Nemik stirbt kurze Zeit später, und das, obwohl ihn Cassian und Co. sogar noch schnellstmöglich zu einem Arzt gebracht haben. Geschickt spielt die Disney+-Serie hier mit unseren Gefühlen und Erwartungen Ping-Pong.
Keine ausgelatschten Drehbuch-Klischees, es lebe der Zufall!
Ähnlich verhält es sich, als Cinta (Varada Sethu) und Vel (Faye Marsay) sich aufteilen, ein letztes Mal sehen und Vel zu ihrer Geliebten sagt: „Versprich mir, dass dir nichts geschieht.“ In fast jeder anderen Serie wäre genau das das Todesurteil für Cinta gewesen. Doch in „Andor“ geschieht ihr wirklich nichts und ich war heilfroh, dass die „Star Wars“-Serie dieses Klischee umgeht.
Stattdessen geschieht etwas, mit dem ich wirklich nicht gerechnet habe: Der Herzinfarkt des imperialen Kommandanten Jayhold (Stanley Townsend). Bis zu diesem Zeitpunkt lief der komplette Plan der Rebellentruppe wie am Schnürchen, und zwar nicht aufgrund der fassungslosen Dummheit des Imperiums (wie in anderen „Star Wars“-Serien und -Filmen), sondern weil es einfach ein richtig guter Plan war und sie ihre Rollen allesamt professionell ausführten.
Der Herzinfarkt des Kommandanten ist aufgrund seines gehobenen Alters, seines zuvor verdeutlichten Übergewichts sowie der enormen Stresssituation, in der er sich befand, eine logische Konsequenz, doch das Timing hätte unglücklicher kaum sein können. Es sind solche glaubwürdigen Zufälle, die einem Drehbuch nochmal den letzten Schliff verleihen und eine Geschichte somit zugleich aufregender wie auch realistischer machen. Schließlich ist das echte Leben doch auch oft gespickt von Zufällen und läuft nicht entlang eines roten Fadens, den sich irgendein Drehbuchautor oder eine Drehbuchautorin ausgedacht hat.
Der finale Twist sitzt tief
Kommen wir zum finalen Highlight der Episode: dem letzten Dialog zwischen Cassian (Diego Luna) und Skeen (Ebon Moss-Bachrach). Diese Szene finde ich gleich in mehrerer Hinsicht genial:
Zunächst ist es erstmal ein fetter Twist, dass sich Skeen als gieriger Opportunist herausstellt, dem die Rebellion völlig egal ist. Solche Wendungen sind immer dann gut, wenn sie nicht einfach nur zum bloßen Schock-Effekt genutzt werden, sondern wenn sie rückblickend betrachtet auch wirklich Sinn ergeben. Und tatsächlich: Es ist einer dieser Momente, wo es mir wie Schuppen von den Augen fiel.
Denn als jemand, der ein paar Partien des Gesellschaftsspiels Werwolf auf dem Buckel hat, habe ich irgendwann gelernt, wie man sich am besten verhält, wenn man ein Verräter in einer Gruppe ist: Man lenkt den Verdacht auf jemand anderen und signalisiert, dass einem wirklich etwas daran liegt, ihn zu entlarven. Das macht man aber nicht völlig willkürlich (ein beliebter Fehler), sondern mit rationalen, berechtigten Einwänden, die man genau so auch äußern würde, wenn man wirklich Teil der Gruppe wäre.
Skeen hat gute Gründe, Cassian zu verdächtigen und nutzt diese Gelegenheit, um sich uns als überzeugter Rebell zu präsentieren. Spätestens als er Cassians Kyber-Kristall enthüllt und ihn als bezahlten Söldner entlarvt, hat er seine Loyalität damit endgültig unter Beweis gestellt. Ganz klar: Andor ist derjenige, auf den wir ein Auge haben sollten, nicht Skeen!
Dass eben dieser Vorzeige-Rebell nun mit dem Geld abhauen möchte, ist zunächst ein Schock, aber absolut glaubwürdig. Auch Cassian findet das überzeugend genug und schockt uns ebenfalls: Mit seinem flotten Finger am Abzug und einer Kaltblütigkeit, die er schon in Folge 1 und „Rogue One“ bewiesen hat, tötet er Skeen auf der Stelle. Erneut zeigt sich, dass Andor alles andere ist als ein strahlender Held, sondern eher die Philosophie des Gauners Tuco aus „Zwei glorreiche Halunken“ beherzigt: „Wer schießen will, soll schießen und nicht quatschen!“
Ist Skeen wirklich ein Verräter?
Doch wartet mal einen Moment: Was ist, wenn Skeen doch kein Verräter ist? Wenn das alles nur ein Test war? Ist das nicht genauso wahrscheinlich? Schließlich hat er von Anfang an an der Loyalität Cassians gezweifelt. Es würde ebenso gut zu Skeens Charakter passen, ihn mit einer Lüge zu ködern, um dessen wahre Gesinnung aufzudecken.
Deshalb war ich mir während der gesamten Unterhaltung auch überhaupt nicht sicher, was ich von seinem angeblichen Verrat halten soll (was den Dialog auch extrem spannend machte). Doch Cassian gibt uns gar nicht die Chance, die Wahrheit zu erfahren, weil er Skeen einfach ohne zu zögern umnietet! Wie unerwartet ist das denn?!
Ich liebe es einfach, dass „Andor“ keine ausgelatschten Drehbuch-Pfade entlangwandert, auf A nicht zwangsläufig B folgt, sondern sich manchmal ein unerwartetes C dazwischen schiebt, dass dann wiederum zu Punkt D führt. Wie im echten Leben hat nicht jeder Mensch automatisch einen perfekten konstruierten Handlungsbogen, sondern wird von willkürlichen Zufällen auch mal aus der Bahn geworfen. Die Serie wiegt uns mit generischen falschen Fährten in Sicherheit, um uns dann mehrfach mit einer Punchline aus einer völlig anderen Richtung zu überraschen.
"Andor": Habt ihr die beiden "Game Of Thrones"-Stars in Folge 4 der "Star Wars"-Serie erkannt?Auch die Figuren sind tiefgründig ambivalent. Cassian Andor lässt sich einfach nicht in eine Schublade packen und selbst kleinere Nebenfiguren wirken selten wie bloße Statist*innen, sondern wie echte Individuen in einer lebendigen Welt.
Wie damals die frühen Staffeln „Game Of Thrones“ nimmt „Andor“ bisher keine Rücksicht auf Verluste. Alles ordnet sich dem Worldbuilding und der Glaubwürdigkeit der Geschichte unter. Wenn dabei jemand unter die Räder kommt, dann ist das einfach so. „Andor“ ist kein sentimentales Epos vom Kampf zwischen Gut und Böse, sondern ein kaltblütiger Thriller im grauen Limbo dazwischen – und genau das bringt mein „Star Wars“-Herz zum Rasen!
In "Andor" steckt mehr, als ihr denkt: Dieses winzige Detail greift eine 25.000 Jahre alte "Star Wars"-Geschichte auf!