+++ Meinung +++
Regisseur Oskar Roehler ist ein moderner Kinoquerulant. Er verantwortete eine grelle Mischung aus Sex-Farce und Gesellschaftssatire namens „Suck My Dick“, das sprunghaft erzählte Drei-Stunden-Epos „Quellen des Lebens“ und die Sklaverei-Farce „Herrliche Zeiten“. Daher lassen sich im aktuellen deutschen Filmschaffen wenige finden, die besser geeignet wären, um ein Biopic über den unberechenbaren, impulsiven Meisterregisseur Rainer Werner Fassbinder zu drehen.
Dieser Erwartung wurde „Enfant Terrible“ durch eine selbstbewusste Streitbarkeit gerecht. Das ist ein schön-unangepasstes Geschenk für Fassbinder-Fans und ein packender Vorgeschmack für alle, die sich ihm noch nähern wollen. arte zeigt „Enfant Terrible“ heute, am 12. Oktober 2022, ab 22.35 Uhr.
"Enfant Terrible": Neurotisch, tragisch, entfesselt – ohne falsches Mitleid
Mit 22 Jahren stürmt Rainer Werner Fassbinder (Oliver Masucci) die Bühne des Münchener Antitheaters und reißt die Inszenierung an sich. Niemand, nicht einmal er selbst, ahnt, dass aus diesem kreativen Störenfried bald einer der wichtigsten Filmschaffenden Deutschlands wird. In kurzer Zeit versammelt Fassbinder Schauspieltalente, Selbstdarsteller*innen und Leute, die helfen wollen, seine Vision zu verwirklichen, um sich. Mit großer Passion sowie fordernder Persönlichkeit erarbeitet er sich unter körperlicher Selbstausbeutung und hemmungslosem Drogenkonsum den Ruf: „Enfant terrible“! Ein Höhenflug mit hohen Kosten...
Fassbinder lebte und arbeitete intensiv: Saufend und koksend hastete er durch etwas mehr als ein Dutzend Schaffensjahre. In dieser Zeit stemmte er über 40 Spielfilme, darunter so unvergessene Werke wie „Angst essen Seele auf“, „Die Ehe der Maria Braun“ und „Die bitteren Tränen der Petra von Kant“ – sowie diverse weitere Projekte, wie die Mammutserie „Berlin Alexanderplatz“. Das lässt sich als Rausch der Kreativität und des Schaffensdrangs bezeichnen, führte jedoch zu überdimensionalen Schatten der Selbstzerstörung. Ganz davon zu schweigen, dass sich Fassbinders Intensität nicht auf ihn selbst beschränkte.
So gefeiert seine künstlerischen Visionen sind, und so sehr er auch Gleichdenkende um sich scherte, die ihn für seine Art und sein Werk feierten: Fassbinder war am Set, hinter den Kulissen und privat oftmals ein Ausbeuter und Choleriker, dem gelegentlich jegliche Empathie abhandenkam. Eine komplizierte Person, die Filmbegeisterte in komplizierte Gefühlslagen drängt. Ganz konsequent weigert sich Oskar Roehler, einfache Antworten zu geben:
In „Enfant Terrible“ lässt er Oliver Masucci mit plättender Macht vom Leder ziehen, wenn er in der Rolle des verqueren, anstrengenden sowie genialen Filmemachers Cast und Crew quält – und sich selbst. Aber eine filmgewordene Bebilderung von Fassbinders Fehltritten wäre bloß ein Bruchteil dessen, was ein Biopic über den Regisseur leisten könnte.
Streaming-Tipp: 10 kompromisslose, einzigartige Filme und eine Must-See-Mammutserie – allesamt aus einer Hand!Also sehen wir zu, wie die von Carl-Friedrich Koschnick geführte Kamera wie gebannt Fassbinder anstarrt, der sein Leben und seine Kreativitätsschübe voll auskostet. Wie sie es ihm gönnt, sich trotz, ach, wegen Bierbauch erotisch zu finden. Wie sie fast davor ist, zustimmend zu nicken, wenn Fassbinder aus rotziger Laune heraus behämmert klingende, klasse aufgehende Ideen umsetzt. Roehler porträtiert den Selbststolz, die Neurosen und die Dämonen Fassbinders ebenso gefesselt, wie er die Tragik seines Lebens und die Folgen seines Handelns einfängt. Dabei verkneift sich der Regisseur jegliches falsches Mitleid.
Aller Bewunderung für Fassbinders Schaffen zum Trotz kommt es nicht zur „Heldenverehrung“. Stattdessen ist „Enfant Terrible“ eine Verneigung vor der „Idee“ Fassbinder sowie vor der Erkenntnis, dass es vieles aus der „Realität“ Fassbinder nicht gebraucht hätte. Was es hingegen womöglich brauchte, sind die Budgetstreichungen hinter diesem Biopic: Zunächst mit Kosten von 7,5 Millionen Euro geplant, schrumpfte das Budget auf 2,5 Millionen. Auf dem Papier ein großer Verlust, in der Praxis ein Gewinn, der „Enfant Terrible“ den Extra-Schuss Fassbinder-Vibe einbrachte:
In 25 Drehtagen vor Kulissen gedreht, die teilweise womöglich selbst Fassbinder bemitleidend betrachtet hätte, rockt sich der Film episodenhaft durch mehr als ein Dutzend Handlungsjahre. Das sorgt für eine markante Optik, die sich Roehler mit seinem ganz eigenen Humor zunutze macht, während Masucci das Bild mit seiner mimischen und gestischen Vielfalt füllt. Von hoffnungslos kaputt bis unkaputtbar-übermenschlich in seiner Wirkung – das könnte glatt die Überschrift einer Fassbinder-Filmsammlung sein!
Enfant Terrible