Bislang war Netflix eine Erfolgsgeschichte. Immer größer wurde der Streamingdienst. Immer mehr Kund*innen konnte man weltweit verzeichnen. Doch dieser Woche gab es einen wahren Kanonenschlag, als Netflix verkünden musste, dass man im ersten Quartal 2022 zum allerersten Mal in der Firmengeschichte einen Rückgang bei den Abonnements verzeichnen musste: Statt wie anvisiert 2,5 Millionen zusätzliche Nutzer*innen zu haben, ging es um 200.000 nach unten. Zudem musste man auch noch in Aussicht stellen, dass man im kommenden zweiten Quartal von April bis Juni mit einem noch größeren Rückgang rechnet – und zwar um rund zwei Millionen Abos.
Während es die vielfältigsten Erklärungsansätze für den Rückgang gibt, stürzte die Netflix-Aktie massiv ab – um rund 30%. Und Netflix scheint fast schon panisch auf diese schlechten Nachrichten reagiert zu haben. Zumindest legt dies ein Bericht des für gewöhnlich sehr gut informierten Branchenmagazins The Wrap nahe.
Entlassungen im Animationsbereich …
Wie von Netflix mittlerweile auch bestätigt wurde, hat das Unternehmen bereits diese Woche mehrere Leute entlassen – allen voran in der Animationsabteilung. Der als Director Of Creative Leadership And Development For Original Animation tätige Phil Rynda, der gerade noch die interaktive Serie „Battle Kitty“ auf den Weg brachte, musste so gemeinsam mit einem Teil seines Teams gehen.
Gerade den Animationsbereich hat Netflix zuletzt eigentlich immer weiter ausgebaut. Man bietet mittlerweile zahlreiche Inhalte für kleine Kinder, will zudem mittelfristig auch Disney Konkurrenz machen. Netflix hatte für Jahre auch den Ruf, Kreativen hier besonders viel Freiheit zu geben, und konnte mit diesem Versprechen so hochkarätige Namen aus der Branche wie „Powerpuff Girls“-Macher Craig McCracken oder „Manolo und das Buch des Lebens“-Regisseur Jorge R. Gutierrez anlocken, veröffentlichte daneben außergewöhnliche Filme wie „Klaus“, die niemand sonst finanzieren machen wollte. Doch das alles ändert sich scheinbar schon seit geraumer Zeit hinter den Kulissen.
Führt Datenhörigkeit zu Absetzungen?
The Wrap hat mit mehreren Leuten aus dem Animationsbereich gesprochen, die beklagen, dass die einstige kreative Freiheit einer Datenhörigkeit geopfert worden sei. In Diskussionen und Meetings werde man so immer wieder mit (angeblich intransparenten) Daten konfrontiert, die zeigen sollen, was das Publikum wirklich sehen wolle. Hinterfrage man diese Daten, werde man sehr schnell abgewiegelt. Es wird Netflix zudem vorgeworfen, diese Daten manipulativ einzusetzen und nur zu nutzen, um eigene Argumentationen zu untermauern oder die Ideen der Kreativkräfte nieder zu machen.
Und so hat Netflix auch mehrere Projekte im Animationsbereich aus der Entwicklung genommen, weil sie angeblich nicht dem entsprechen, was die Leute da draußen sehen wollen. Geschichte sei so nun die Adaption von Jeff Smiths preisgekröntem Comic „Bone“, die sich seit Jahren in der Entwicklung befindet. Dies hat Netflix auch bereits bestätigt. Auch ein neues Projekt der bekannten Animatorin Lauren Faust („My Little Pony – Freundschaft ist Magie“, „Kid Cosmic“) wurde bereits vor einigen Wochen eingestellt, als man intern schon über die bald zu verkündenden schlechten Zahlen wusste.
Die geplante Roald-Dahl-Adaption „The Twits“ wird bei The Wrap auch als Opfer der neuen Ausrichtung genannt, wobei Netflix hier in einer Stellungnahme gegenüber dem Branchenmagazin dementiert. Die Adaption sei noch auf der Agenda, es gebe nur die Überlegung, nun statt der eigentlich geplanten Serie einen Film zu machen.
Der Schnitt betrifft wohl nicht nur kommende Projekte. Die Kinder-Serie „Meine Stadt der Geister“ wird so trotz einer Nominierung für den renommierten Peabody Award nicht fortgesetzt. Macherin Elizabeth Ito soll sich bereits enttäuscht von Netflix abgewendet haben und künftig für AppleTV+ neue Inhalte entwickeln.
Ist mehr "Boss Baby" die Folge?
All diese Projekte haben gemeinsam, dass sie Netflix als angeblich zu riskant einstuft. Sie sollen zu sehr in bestimmte Nischen gehen. Netflix will mehr Projekte für die breite Masse und als strahlendes Beispiel wird intern angeblich die Serie „Boss Baby: Wieder im Geschäft“ genannt. Laut The Wrap bestätige jede Person bei Netflix, mit der man gesprochen habe, dass die „Boss Baby“-Serie ihnen in den Diskussionen immer wieder als Idealbild vorgehalten wurde. Exakt so solle eine Serie aussehen, diese Zahlen solle sie einbringen.
Es ist dabei nicht frei von Ironie, dass ausgerechnet „Boss Baby: Wieder im Geschäft“ gerade keine von Netflix selbst entwickelte Serie ist, sondern nur von Produktionsfirma DreamWorks eingekauft wurde.
Kinderprogramme wohl nur die Spitze des Eisbergs
Wie sicher den meisten aufgefallen ist, sind alle genannten Beispiele nun animierte Projekte für Kinder. Der Grund: The-Wrap-Reporter Drew Taylor hat explizit in diesem Bereich recherchiert, mit den in diesem Bereich bei Netflix tätigten Mitarbeiter*innen und für Netflix tätigen Kreativkräften gesprochen. Wer jetzt aber denkt, „Ich schaue keine Kinderserien und -filme, ich muss mir deswegen keine Sorgen machen“, ist ziemlich schief gewickelt.
Denn es ist sehr wahrscheinlich, dass die beschriebenen Ansätze – und nennen wir es ruhig so – Probleme sich auch in den anderen Abteilungen wiederfinden und die nun besonders drastischen Einschnitte im Animationsbereich nur die Spitze eines Eisbergs sind. Es ist wahrscheinlich, dass diese „Datenhörigkeit“ in allen Abteilungen existiert, dass Netflix überall Kreativen das Leben schwer macht und ihnen mit womöglich intransparenten Zahlen vorhält, dass ihre Projekte keine entsprechend große Masse anlocken.
Und es ist ja schon in den vergangenen Jahren deutlich zu merken. Netflix setzt noch mehr auf massentaugliche Projekte – auf Filme mit Superstars wie bei „Red Notice“, auf kostengünstige und trotzdem unglaublich beliebte Teenie-Romanzen wie zuletzt „The InBetween“. Das könnte sich noch verstärken, wenn Netflix wirklich vor allem und womöglich (wie es in dem Bericht vorgeworfen wird) fast nur noch auf die Daten schaut – und birgt natürlich eine große Gefahr. Wenn man schon im Vorfeld der Planung nur darauf schaut, was laut den Daten bislang gut lief, alles den bisherigen Daten unterordnet, macht man nur immer mehr vom Gleichen, wird weniger vielfältig... Und das ist eine – wenn ich das hier so deutlich sagen darf – durchaus beängstigende Richtung...