+++ Meinung +++
Wir leben in einer Blütezeit des Dokumentarfilms, der ganz unterschiedliche Formen hat. Populär sind dabei aber vor allem die sogenannten True-Crime-Formate, in denen echte, spektakuläre Verbrechen rekonstruiert werden, so wie es bei „Tiger King“ auf Netflix gemacht wurde. Diese Serien sind spannend und kompetent konstruiert – und haben sehr wenig mit der Realität zu tun, wie sie von vielen Menschen derzeit erlebt wird.
Denn die verantwortlichen Dokumentarfilmer*innen suchen extreme und damit seltene Geschichten, um sie als Krimis zu erzählen. Ganz anders macht es Regisseur und Kameramann Carl Gierstorfer, der für seine vierteilige Doku-Serie „Charité intensiv: Station 43“ den Winter 2020/21 auf einer Intensivstationen des Berliner Krankenhauses Charité verbracht hat.
Gierstorfer und sein Team zeigen eine Realität, wie sie seit mehr als einem Jahr in ähnlicher Form vom Krankenhauspersonal auf der ganzen Welt erlebt und durchlitten wird. Mehrere Monate lang war der Regisseur bei den Ärzt*innen und Pfleger*innen auf einer Berliner Intensivstation zu Gast, als sich die Krankenhauszimmer mit Menschen füllten, die an Covid erkrankt waren – und zwar so schwer, dass sie nur mit Rund-um-die-Uhr-Betreuung und dank Maschinen eine Überlebenschance hatten.
Bei „Charité intensiv: Station 43“ ist die Kamera im Raum, wenn um das Leben einer gerade mal 28-jährigen Patientin gekämpft wird. Die Kamera fährt mit, wenn der Rettungswagen durch die Berliner Nacht braust, damit eine seltene Maschine zu einem Patienten in einem anderen Krankenhaus gebracht werden kann, die den Kreislauf ersetzen wird, den der Körper alleine nicht mehr aufrechterhalten kann. Nur ab und zu werden Interviewaufnahmen mit den Beteiligten zwischen die Aufnahmen des Klinikaltags geschnitten. Gierstorfer lässt das Geschehen weitestgehend für sich sprechen.
Arbeit an der Grenze
„Charité intensiv“ ist eine Grenzerfahrung, wie sie selbst Extremfilmer Werner Herzog – der schon in einer Eiswüste gedreht hat und unter Bären-Forschern – nicht besser hätte verwirklichen können. „Charité“-Regisseur Gierstorfer sagte in einem Interview über seinen Arbeitsprozess, dass ein großer Teil darin bestanden habe, das Vertrauen der Mitarbeiter*innen, der Angehörigen und der Patient*innen zu gewinnen, die ja ihre Erlaubnis geben mussten, gefilmt zu werden. Dieses Einverständnis und die mit der Kamera eingefangenen Beobachtungen führen zu Szenen, wie man sie in dieser Intimität selten zu sehen bekommt. Es sind Szenen, die mich erschüttert haben, im Guten wie im Schlechten.
Wenn einer der Patienten nach erfolgreicher Intensivbehandlung die ersten Schritte aus dem Bett und bis nach draußen an die frische Luft macht, entsteht ein großer Moment der Freiheit aus dieser an sich kleinen Handlung. Wenn eine Ehefrau von ihrem soeben verstorbenen Mann Abschied nimmt, bei dem die Covid-Krankheit in der letzten Konsequenz ein Multiorganversagen bewirkte, dann verdichtet sich in diesem herzzerreißenden Moment die abstrakte Zahl der bald 79.000 Todesfälle, die es in Deutschland im Zusammenhang mit der Pandemie bisher gab. „Charité intensiv“ bewirkt mehr als alle Appelle, als alle Artikel über Corona und als alle Statistiken: Das tägliche Sterben wird hier tatsächlich greifbar.
Eine Superheldenserie
Ich war mir in der ersten der vier Folgen nicht sicher, ob ich die Serie bis zum Ende durchhalten werde. Ich verstehe jeden, der es nicht möchte. Andererseits bin ich sehr froh, bis zum Ende geschaut zu haben. Neben der tiefen Erschütterung nämlich hat „Charité intensiv“ eine noch viel tiefere Bewunderung in mir ausgelöst, eine Bewunderung für die Arbeit sämtlicher Mitarbeiter*innen der Station 43, für alle, die sich seit mehr als einem Jahr jeden Tag um die Kranken kümmern, unterbesetzt und überarbeitet, während es manche Mitbürger*innen schon als Zumutung empfinden, sich eine Maske aufzusetzen.
Ich weiß, dass sich die Mitarbeiter*innen in den Krankenhäusern davon nichts kaufen können, aber „Charité intensiv“ ist das Zeitdokument einer kollektiven, täglichen Heldentat. „Charité intensiv“ ist eine Superheldenserie im reinsten Sinne des Wortes, über Ärzte und Ärztinnen und über Pfleger*innen, die sich jeden Tag die Ärsche aufreißen, ohne dass die Welt außerhalb der sterilen Krankenhauszimmer davon groß etwas mitbekommt. „Charité intensiv“ gibt uns Außenstehenden einen raren, wichtigen Einblick, der unverstellt ist.
„Charité intensiv“ ist genau jetzt, wo Intensivmediziner*innen sich mit der Warnung an die Öffentlichkeit gewandt haben, dass die Krankenhäuser bald wieder überlastet sein werden, eine der relevantesten Dokumentationen der Welt und ein augenöffnendes Meisterwerk.
Alle vier nur jeweils eine halbe Stunde langen Folgen „Charité intensiv: Station 43“ gibt es in der ARD-Mediathek.