+++ Meinung +++
Ganze vier Jahre sind seit „A Cure for Wellness“ vergangen, dem jüngsten Film von „Ring“- und „Fluch der Karibik“-Regisseur Gore Verbinski. Für mich als großem Fan dieses passionierten Filmemachers, dem seine widersprüchliche Vergangenheit als Punk und Werberegisseur stets anzumerken ist, ist das genügend Zeit, um Entzugserscheinungen zu entwickeln. Entsprechend ausgehungert habe ich mich auf David Priors „The Empty Man“ gestürzt, als US-Kritiker Rob Hunter auf Twitter erklärte, dieser Film würde sich „wie ein verschollener Gore-Verbinski-Film“ anfühlen. Besser kann man mich nicht scharf auf einen Film machen!
Nun gibt es „The Empty Man“ auch in Deutschland zu streamen. Ohne große Ankündigung steht der Horrorfilm mit unter anderem James Badge Dale bei den üblichen VoD-Anbietern wie zum Beispiel Amazon Prime Video zum Kauf und zur Leihe zur Verfügung.
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Und was soll ich sagen? Hunter hat den Nagel auf den Kopf getroffen! Mit voller Wucht: „The Empty Man“ erzählt von der Suche eines abgehalfterten Ex-Cops nach auf mysteriöse Weise verschwundenen Teenagern und vereint dabei die Ambition des genialen, eine eigene, verschachtelte Schauerwelt erschaffenden „A Cure for Wellness“ mit der Grundspannung eines „Ring“.
Darüber hinaus verquickt das Langfilm-Regiedebüt des früheren DVD-Bonusmaterial-Verantwortlichen Prior die „Wenn du dies machst, wirst du wenige Tage später sterben“-Mechanik aus „Ring“ sowie seine Grundidee, einen Protagonisten zu zeigen, der die Hintergründe dieser Schauermär ermittelt, mit dem verschwörerischen „Steckt etwa ein Kult dahinter?“-Mysteryelement aus „A Cure for Wellness“.
Insofern ist „The Empty Man“ schon mal exakt auf mich zugeschnittener Fanservice, der mir gefallen musste. Aber der Film ist noch so viel mehr, weswegen er floppen musste, aber auf dem besten Weg ist ein anfangs verkannter Klassiker zu werden.
Passionierter Flop mit Ansage
So nimmt sich der zu Produktionsbeginn noch mit freiem künstlerischen Geleit gesegnete Prior alle nur erdenkliche Zeit, um seine Vision zu entfalten: Mit satten 137 Minuten ist „The Empty Man“ wahrlich kein Laufzeit-Leichtgewicht. Gore „Überlänge ist gut!“ Verbinski wäre gewiss stolz, die Box-Office-Gottheiten rümpften derweil die Nase: Selbst namhafte Regisseure schaffen es selten, Horror mit Überlänge zum Kinoerfolg zu verhelfen, wie soll das also einem Debütanten gelingen?
Noch dazu einem, der ein Skript verantwortete, in dem die Comicvorlage zu „The Empty Man“ kaum wiederzuerkennen ist, womit er willentlich jene verprellt, die dem Film allein aufgrund des Titels eine Chance gegeben hätten…
Hinzu kommt eine urplötzlich stiefmütterliche Behandlung durch die verantwortlichen 20th Century Studios, gipfelnd in einer US-Kinoveröffentlichung nahezu ohne Promo, mitten in einer Pandemie. So ist klar, weshalb „The Empty Man“ im Kino auf die Nase flog und hierzulande völlig ohne Vorwarnung, ganz unzeremoniell als digitaler Bezahltitel veröffentlicht wurde. Dem Misserfolg zum Trotz gilt aber: Der Film selbst ist top, daher solltet ihr es mir dringend nachmachen und euch „The Empty Man“ anschauen!
Ein fantastischer Kurzfilm – und dann geht’s einfach weiter und weiter
Der inszenatorische Schneid hinter „The Empty Man“ offenbart sich direkt zu Beginn: Prior eröffnet seinen Film mit einem immens atmosphärischen Cold Open über eine Gruppe befreundeter Wanderer im Himalaya. Innerhalb von rund 20 Minuten lernen wir die Gruppendynamik kennen, einzelne Figuren mögen und hassen, stellen uns Fragen darüber, wie diese Freunde ticken, wenn sie sich nicht gerade bei einer strapaziösen Wandertour auf den Wecker gehen, und werden vom Geheimnis um ein sonderbares Skelett (mit dem Potential, ein ikonisches Bild des modernen Horrorkinos zu werden) gepackt.
All das entfaltet sich ästhetisch ebenso wunderschön wie desorientierend: Kameramann Anastas N. Michos („The First Purge“) fängt die verschneite, eisige Gebirgslandschaft in klaren Bildern ein, die jedoch häufig frei von Tiefenwirkung sind. Schnell verschwindet jegliches Gefühl für Distanzen und Größenverhältnisse, was eine subtile, nicht abzuschüttelnde Beklommenheit auslöst. Schließlich geht damit ein ständiges Unbehagen einher, wenn die Freunde durch das bildlich-unwegsame Gelände schreiten: Unentwegt warte ich darauf, dass jemand stolpert, umknickt oder stürzt, weil er oder sie unweigerlich unaufmerksam war.
Nach einem unheimlichen Vorkommnis stoßen zudem unwirtlich an die Figuren heranrückende Nahaufnahmen zur inszenatorischen Sprache des Films hinzu – und ein ätzendes, klackerndes Getuschel, das immer wieder durch das Geschehen raunt. Sind es abstoßende Geheimnisse, die ausgeplaudert werden, sind es unschöne Erinnerungen, die durch die Köpfe spuken, oder ist es das Heraufbeschwören eines Monstrums? Spannung macht sich breit und löst sich schlagartig sowie drastisch auf. Da, wo andere Filme in den zweiten Akt übergehen würden, kappt Prior einfach die bisherige Story mit einem radikalen Ende ab.
Durch Horror-Subgenres geschlichen
Anschließend beginnt der eigentliche Film. Noch benommen von der Frage, ob die vorausgegangenen rund 20 Minuten bloß ein ambitioniertes, atmosphärisches Vorspiel waren, stolpern wir in den Alltag des einsamen, von Kummer zerfressenen Ex-Detectives James Lasombra („The Pacific“-Star James Badge Dale). Der wird von einer Bekannten gebeten, im Vermisstenfall ihrer Tochter zu ermitteln. Alsbald erfährt James von den Schauergeschichten der örtlichen Teenager, die sich zur Mutprobe herausfordern, den Empty Man heraufzubeschwören …
In der Nacherzählung klingt das jeweils für sich genommen vielleicht gewöhnlich: Erst ein Freunde-allein-in-der-Abgeschiedenheit-Hüttenhorror, dann eine Teenager-Monstermär, wie sie sie zuvor „Slender Man“ oder „The Bye Bye Man“ vergeigt haben. Aber wie eingangs erwähnt: Prior gibt sich nicht mit dem Gewöhnlichen zufrieden. Allein schon, diese Elemente (und die Ermittlungsthriller-Versatzstücke rund um James) zu verbinden, gibt „The Empty Man“ einen gewissen Reiz. Und mit soghafter Wirkung erwächst daraus eine zunehmend eigenwilligere Erzählung:
Wann immer der Anschein entsteht, „The Empty Man“ habe es sich in einem Horror-Subgenre heimisch gemacht, schleicht Prior in hypnotisch-beunruhigender Gemütlichkeit um die Ecke. Dort warten mal fesselnde Suspense-Setpieces, mal neue Figuren mit einnehmender Persönlichkeit – aber stets Versatzstücke weiterer Horror-Subgenres. Zusammengehalten wird dies durch die Untiefen der vertrackten Empty-Man-Mythologie, unseren gleichermaßen tapsig-charmanten wie ominös-verschlossenen Protagonisten, und vor allem durch Priors fähige stilistische Hand. Sowohl inszenatorisch als auch auf narrativer Ebene…
Klang- und Bildwelten verschwimmen
Nicht nur, dass Prior schon in seinem Debüt das stattliche Selbstbewusstsein hat, uns mehrmals minutenlang in Anspannung verharren zu lassen, ohne die Erlösung durch einen klaren Schrecken zu bieten, wodurch sich dieser Schauer immer weiter verschleppt … Bevor er verspätet, aber potenziert zündet.
Mit ähnlicher Ausdauer enthüllt er die Signifikanz des Prologs – und auch die unsere Tiefenwahrnehmung verfremdende Bildsprache offenbart sukzessive ihren Daseinsgrund: Die Mythologie des Empty Man ist mit Brücken verknüpft, und die verschworene Gesellschaft, der James nachgeht, glaubt, dass sich die Distanz zwischen Welten und Wahrnehmungsebenen verwischen ließe. Es werden sozusagen Brücken benötigt, um sie an anderer Stelle obsolet zu machen.
"Come True": Achtung, dieser Horror-Trailer könnte Schlafstörungen verursachenEs ist nur konsequent, dies durch das irritierende Überbetonen und Komprimieren von Abständen in die Inszenierung übertragen, die zudem von exaltierten, einprägsam konstruierten Szenenübergängen durchsetzt ist, sowie zum Bersten voll mit Dopplungen und albtraumesken Ellipsen. Ellipsen, die mich immer wieder unerwartet getroffen haben, da „The Empty Man“ gleichwohl auch sehr kleinteilig und „diesweltlich“ erzählt ist. Als wäre dieses minutiöse Aufzeigen von Abläufen eine klapprige Hängebrücke, und die albtraumhaften Stilmittel der sie (und mich als Zuschauer) aus dem Gleichgewicht bringende, eisige Höhenwind.
Das Überschreiten dieser Hängebrücke, also das Anschauen von „The Empty Man“, wird des Weiteren durch eine immer kränklicher werdende Farbästhetik und die an den Rändern verkrümmten sowie verwaschenen, anamorph gefilmten Cinemascope-Bilder aufregender gestaltet. Bilder, durch die ein tönender, pulsierender Score von Christopher Young („Drag Me to Hell“) und Lustmord („First Reformed“) wabert, der aus Lärm, Synths, Geheul und Geknurre besteht – wenn er nicht gerade überraschend in betrüblich-schwelgende Melancholie kippt.
Es ist die zerrissene Klangwelt, die dieser Film verdient. Denn je monumentaler und weltumspannender die eingangs so lokal wirkende Teenager-Schauergeschichte gerät, desto subjektiver und eingeengter wird „The Empty Man“ erzählt. Wir haften mehr und mehr an James' Fersen, tauchen unbemerkt, doch wirkungsvoll in seine Wahrnehmung ein, bis die Erzählperspektive vollkommen verzerrt ist.
Was also hält euch noch auf?!
So nimmt uns Prior sämtlichen Halt: Egal, ob es die Bedrohungen von außen sind (wie der Verschwörungskult), oder doch die Ängste aus einem selbst heraus (wie der Psychoterror-Aspekt, dass James sämtlichen Halt verliert) – eines dieser beiden Grauen kriegt dich. Und sie greifen in „The Empty Man“ hervorragend ineinander, bis sie eine untrennbare Einheit ergeben: Das Ende ist konfus und säuberlich-exakt wie ein Schweizer Uhrwerk, konsequent und frappierend zugleich.
Schade, dass durch die Veröffentlichungspolitik so viele Brücken zum Publikum gekappt wurden und viele Horror-Fans vielleicht nie auf „The Empty Man“ aufmerksam werden.
Daher sage ich: Solch ein meisterliches Langfilm-Regiedebüt muss viel mehr gewürdigt werden!
Es darf nicht angehen, dass so eine außergewöhnliche Produktion eines Hollywood-Majors als traurige Fußnote endet. Wir müssen Hollywood ein Signal senden, damit David Prior uns mit weiteren Filmen wie „The Empty Man“ versorgt.
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