--- Meinung ---
Es gehört zum Konzept des Reality-TV-Formats, dass die Teilnehmer während ihrer Zeit im „Big Brother“-Haus nicht mitbekommen sollen, was sonst gerade so in der Welt passiert. Aber es gibt eben auch Ereignisse, die ein Aufrechterhalten dieser Nachrichtensperre ethisch zumindest fragwürdig erscheinen lassen. 2001 war etwa so ein Fall, wo die Bewohner in der US-Ausgabe erst dann über die Anschläge auf das World Trade Center informiert wurden, nachdem der öffentliche Druck auf die Macher einfach zu groß wurde.
Bei Corona ist das nun erst recht angebracht: Schließlich kann es nicht nur sein, dass sich Familienmitglieder oder Freunde draußen in der Welt infizieren – auch die Kandidaten selbst setzen sich einer gewissen Gefahr aus, denn auch wenn sie dort im Haus „isoliert“ sind, kommen sie zumindest indirekt mit zur Produktion gehörigen Leuten und anderen potenziellen Infektionsquellen in Kontakt. Sie über dieses Risiko nicht aufzuklären, wäre tatsächlich ethisch kaum zu verantworten (schon allein wegen der nun noch restriktiveren Hygieneregeln).
Das schwedische Big Brother wird gefeiert!
Die Produzenten der schwedischen „Big Brother“-Ausgabe werden aktuell für ihren Umgang mit der Corona-Krise von vielen Seiten gelobt. Sie haben bereits am vergangenen Mittwoch die Livestreams gekappt, um den Teilnehmern dann persönlich und ohne Live-Publikum die aktuelle Lage zu erklären. Zudem wurde den Kandidaten versichert, dass sie sofort informiert werden, wenn sich ein Familienangehöriger von ihnen infizieren sollte. Auch der Einzug von neuen Bewohnern wurde gestoppt, um ein Einschleppen des Virus ins „Big Brother“-Haus zu verhindern.
Speziell in den sozialen Medien gab es für dieses zurückhaltende Vorgehen viel Lob.
Corona-Update im Live-TV
In Deutschland hingegen wird die Aufklärung im Live-TV passieren: Auch wegen der Aufrufe besorgter Angehöriger der Kandidaten soll heute Abend im Rahmen eines „Big Brother Special“ um 19.00 Uhr die Nachrichtensperre gelöst und den Bewohnern die aktuelle Corona-Lage mitgeteilt werden. Moderator Jochen Schropp und der „Big Brother“-Arzt Dr. Andreas Kaniewski werden die Kandidaten dann live über die Faktenlage informieren, bevor die Teilnehmer dann Fragen stellen können.
So wird live im Fernsehen ein Vorgang nachgestellt, der in ähnlicher Form gerade in jedem Haushalt, in jedem Freundeskreis und an jeder Arbeitsstelle in Deutschland (und der Welt) vonstattengeht – jeder versucht sich zu informieren, sich eine Meinung zu bilden, das alles irgendwie einzuordnen. Dabei nun live im Fernsehen zuzusehen, halte ich deshalb auch nicht für per se für zynisch – sondern für die Abbildung einer Lebenswirklichkeit, die gerade Milliarden von Menschen betrifft und die man deshalb auch nicht unterbinden sollte. Sowas kann auch Gemeinschaft schaffen, indem man der Auseinandersetzung das Abstrakte nimmt – da muss jetzt keiner allein durch, sondern wir stecken alle gemeinsam drinnen.
Bitte kein bloßes Emotionen-Melken
Was aber natürlich nicht heißen soll, dass da nicht trotzdem eine ganze Menge schiefgehen kann. Was passiert etwa, wenn die Kandidaten nicht glauben, dass die Infos echt sind? Könnte ja auch ein perfides Zombie-Epidemie-Spiel sein, das zur Show gehört (würde man als Kandidat ja selbst vermutlich eher glauben, als die reale Situation, dass gerade die gesamte Weltgesellschaft in eine Art künstliches Koma versetzt wird). Wird das dann für billige Lacher genutzt? Hoffentlich (und wahrscheinlich) nicht.
Viel naheliegender ist die Gefahr, dass Sat.1 die Veranstaltung nutzt, um nicht möglichst sachlich zu informieren, sondern einfach nur auf billigste Art Emotionen zu melken: So heißt es bereits in der Ankündigung zu dem „Big Brother Special“, dass die Kandidaten in diesem Rahmen alle noch einmal besondere Video-Grußbotschaften von ihren Angehörigen erhalten sollen. Und da schwant einem natürlich sofort Böses…
Erst abwarten, dann Shitstorm
Und trotzdem bleibe ich dabei: Man sollte Sat.1 und die „Big Brother“-Produzenten nicht von vorneherein verdammen! Es gibt sicherlich Wege, die Corona-Enthüllung auch in einer Live-Sendung so umzusetzen, dass „Big Brother“ seinem Markenkern als TV-Experiment gerecht wird, ohne dass man direkt mit der Moralkeule draufhauen muss. Aber wenn es dann doch nur verlogen-betroffene Exploitation-Kacke dabei rauskommt, dann haben sich alle Beteiligten den sicher folgenden Shitstorm auch redlich verdient…
Anm.d.Redaktio: In einer früheren Fassung dieses Artikels hieß es, dass die „Big Brother“-Bewohner 2001 in der US-Ausgabe sofort und in Deutschland erst verspätet über die Anschläge auf das World Trade Center unterreichtet wurden. Das ist falsch. In Deutschland lief damals gerade keine Staffel – und in den USA erfolgte die Information an die Kandidaten erst verspätet. Außerdem haben wir RTL II statt Sat.1 als ausstrahlenden Sender genannt. Wir haben das berichtigt und bitten die Fehler zu entschuldigen.