Spoiler-Warnung: Am besten lest ihr diesen Text erst, nachdem ihr „Wir“ geschaut habt.
„‚Wir’“ ist ein Horrorfilm.” So simpel brachte es Jordan Peele, der als TV-Komiker bekannt wurde und mit seinem Regiedebüt „Get Out“ einen der besten und meistdiskutierten Schocker der vergangenen Jahre in die Kinos brachte, auf den Punkt. Recht hat er! Auch für uns ist es vor allem der Horror, der „Wir“ so gelungen macht: Fremde, die genauso aussehen wie die Wilsons, sich aber verhalten wie Bestien, dringen in deren Ferienhaus ein und nehmen die Familie gefangen. Das ist beklemmend inszeniert und schon als bloße Idee verstörend.
Aber Peele will in seinem Film auch etwas zur Gesellschaft sagen. Dieser Kommentar hat mit dem großen Twist zu tun, in dem klar wird, wo die aggressiv-animalischen Doppelgänger herkommen. Daher ist erst einmal wichtig, sich noch einmal genau vor Augen zu führen, was überhaupt passiert ist, bevor wir tiefer in die Interpretation einsteigen können.
Twist 1: Die Menschen von unten
In einer großen Wendung erfahren wir, dass unterhalb der USA eine Parallelgesellschaft entstanden ist. Die Menschen in den Tunneln und Kellerräumen, die sich von weißen Kaninchen ernährten, sind exakte Kopien und körperlich nur durch Kleidung oder Frisuren zu unterscheiden. Es heißt aber, sie hätten keine Seele. Längst nicht nur die Familie Wilson wurde kopiert, sondern offenbar die komplette US-amerikanische Gesellschaft, oder zumindest ein großer Teil davon.
Irgendwie sind die Menschen beider Ebenen miteinander verbunden. Wenn ich oben eine Bewegung ausführe, ist meine Kopie unten gezwungen, sie wie eine Marionette nachzumachen. Wer diese Kopien wann genau geschaffen hat und warum, bleibt vage. Die Regierung scheint dahinterzustecken und es scheint dabei um eine Möglichkeit gegangen zu sein, die eigenen Bürger der Oberfläche zu kontrollieren.
Twist 2: Das vertauschte Mädchen
Der Kopie der kleinen Adelaide (Madison Curry), das erfahren wir im zweiten Twist, gelingt die Flucht aus der Unterwelt, als sie im Spiegelkabinett der kalifornischen Küstenstadt Santa Cruz die Plätze mit ihrem Ebenbild tauscht. Die Adelaide von der Oberfläche war vorher mit ihren Eltern auf einem Ausflug im Freizeitpark. Das Mädchen, das die besorgten Eltern dann wiedersehen, ist nicht mehr ihre Tochter, auch wenn es so aussieht.
Die im Fortlauf der Handlung von Lupita Nyong’o gespielte Adelaide-Kopie wächst oben auf und macht schließlich, da setzt die Haupthandlung von „Wir“ ein, mit Ehemann Gabe (Winston Duke) sowie ihren Kindern Zora (Shahadi Wright Joseph) und Jason (Evan Alex) ausgerechnet am Ort des unbemerkten Austauschs Urlaub. Die an der Oberfläche geborene Adelaide zettelt derweil unten eine Revolution an…
Eine reale Menschenkette und ihre Wiederholung
Die unsichtbare Verbindung zwischen den Menschen oben und unten wird gelöst, die Kopien, die sich irgendwann nur noch von weißen Kaninchen ernährt haben, schaffen es ins Freie, richten dort ein Gemetzel unter ihren Ebenbildern an und bilden anschließend eine langen Menschenkette durch Amerika.
Eine ähnliche Menschenkette sehen wir bereits in den ersten Minuten des Films, die im Jahr 1986 spielen. Im Fernsehen läuft ein Beitrag über die „Hands Across America“-Aktion. Teilnehmer sollten sich quer über die USA an der Hand nehmen und ein T-Shirt kaufen. Stars machten Werbung dafür. Doch „Hands Across America“ wurde zum gigantischen Flop. Statt anvisierter 50 bis 100 Millionen Dollar Spenden für Afrika und für Bedürftige in den USA wurden nur 34 Millionen gesammelt – doch viel schlimmer: Über die Hälfte des Geldes ging für die Organisation der Aktion drauf, kam also nie am eigentlichen Ziel an. In „Wir“ wissen die unterirdischen Doppelgänger durch Adelaides T-Shirt von der Kette, die sie später nachstellen.
"Wir": Portrait einer gespaltenen Gesellschaft
Die Erklärung dazu, warum es diese unterirdischen Menschen gibt und wer sie warum erschaffen hat, bleibt lückenhaft und außerdem haut Jordan Peele sie seinem Publikum in hohem Tempo um die Ohren. Wer möchte, kann nach Logiklöchern suchen oder ausgefeilte Theorien dazu entwickeln, aber viele Zuschauer dürften von dieser schnellen, etwas plump in die Handlung integrierten Erklärung (die böse Adelaide erzählt vieles davon einfach mal so) längst nicht alles mitbekommen. Und das ist auch gar nicht schlimm.
Jordan Peele, der für sein Skript zu „Get Out“ den Oscar bekam und auch das „Wir“-Drehbuch im Alleingang schrieb, geht es offenkundig nicht um eine bis ins Detail ausgearbeitete Erklärung dazu, wie und warum jemand die US-Bevölkerung klonte und unterirdisch aufwachsen ließ. Denn Peeles Metapher funktioniert ja auch so: In „Wir“ zeichnet er das Bild einer gespaltenen Gesellschaft.
Der Originaltitel von „Wir“ heißt „Us“ und erinnert damit nicht von ungefähr an „USA“. Es fehlt nur ein Buchstabe. Sozial gespaltene Gesellschaften existieren zwar weltweit, gegenüber den Kollegen von Vanity Fair macht Peele aber deutlich, dass er vor allem etwas über Amerika sagen wollte. Ging es ihm in „Get Out“ um den Rassismus von weißen gegenüber schwarzen Amerikanern, spielt die Hautfarbe in „Wir“ eine untergeordnete Rolle. Die Grenze verläuft hier zwischen denen, die Geld und Chancen haben – und denen, die dazu gezwungen wurden, unter der Erde zu hausen.
Unten vs. Oben = Arm vs. Reich
Die Metapher mag plakativ sein und Peele ist nicht an einer Analyse der Ursachen und Wirkungen sozialer Missstände interessiert – aber „Wir“ ist nun mal ein Horrorfilm und keine Studie. Er schockt, weil Peele ein versierter Genre-Regisseur ist. Und er verstört nachhaltig, weil seine Bilder an die echte, unfaire Welt erinnern: Die Menschen unten sehen exakt so aus wie die Menschen oben, nur hatten sie leider das Pech, unterirdisch aufzuwachsen, ohne Bildung, Sozialversicherung und die sonstigen Annehmlichkeiten, die eine westliche Gesellschaft bieten sollte. Gerade in den USA, wo die soziale Herkunft massiven Einfluss auf Bildungs- und damit Aufstiegschancen hat, kommen eben nicht alle in den Genuss dieser Vorteile.
Am Ende von „Wir“ bilden die entflohenen Tunnelbewohner an der Oberfläche eine Menschenkette. Sie reicht offenbar weit über die Grenzen der Leinwand hinaus. Auch hier ist die Bedeutung der Szene wichtiger als die Frage, wie es die Kopien eigentlich schaffen konnten, diese Aktion zu organisieren. Erneut gilt das Motto „Hands Across America“ – die Teilnehmer aber, die gerade massenweise gemordet haben, sind eine Erinnerung daran, dass die Charity-Aktion von 1986 nichts substanziell dazu beitragen konnte, die Gesellschaft zusammenzubringen. Ganz im Gegenteil: Die Aktion spaltete Amerika sogar, weil es viele Diskussionen darüber gab, dass die Menschenkette nicht durch alle Bundesstaaten lief und diese sich deswegen ausgegrenzt fühlten.
WirDer einzige, jedoch wesentliche Unterschied zwischen den Menschen oben und unten besteht darin, wie verschieden Kopie und Original aufwuchsen. Der Kopie der kleinen Adelaide gelingt es in „Wir“, unbemerkt an die Oberfläche zu kommen – ihre vermeintliche Familie nimmt zwar von ihrem leicht sonderbaren Verhalten Notiz und auch als junge Frau leidet Adelaide noch unter dem Trauma ihrer Herkunft, davon abgesehen aber entwickelt sie sich normal. Ihre Herkunft ist dabei weitestgehend egal.
Die nach unten gegangene Adelaide entwickelt dagegen im Laufe der Jahre monströse Züge, obwohl sie aus einer gut-bürgerlichen Familie stammt. In „Wir“ unterscheiden sich die Bösen und die Guten also lediglich durch die Umgebung, in der sie aufwachsen, nicht durch die biologische Abstammung.
2 Seiten einer Person
Doch es bietet sich noch eine weitere „Wir“-Interpretation an: Schließlich sind die Personen, die unten und oben leben, ja im Grunde nur unterschiedliche Versionen des jeweils selben Menschen. Aber Menschen neigen eben dazu, negative Eigenschaften bei anderen zu sehen, anstatt bei sich selbst. Als böse eingestuft werden gerne diejenigen, die unbekannt sind. Und im Falle von „Wir“ sind das die Kopien von unter der Erde. Im Interview sagte uns Hauptdarstellerin Lupita Nyong’o dazu:
„Im Kern geht es in ‚Wir‘ darum, dass wir selbst unser schlimmster Feind sind. Wir neigen oft dazu, die anderen als Monster zu bezeichnen: die Menschen, die in einem anderen Land leben oder in einer anderen Kultur. Die Menschen, die eine andere Religion haben oder einer anderen politischen Gruppierung angehören. Die Menschen des anderen Geschlechts. Dabei übersehen wir aber manchmal das Monster, das in uns selbst heranwächst.“
Oder kürzer: Das Böse sind wir selbst.
Wenn ihr noch mehr über Interpretation von „Wir“ wissen wollt, empfehlen wir euch unbedingt auch noch unseren Artikel zur Bedeutung des für den Film sehr wichtigen Bibelvers Jeremiah 11:11.
"Wir": Das bedeutet der Bibelvers Jeremiah 11:11 im Horrorfilm