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    Netflix ist nicht schuld am Tod des Kinos

    Das Kino ist tot, lang lebe das Kino! Streamingdienste wie Netflix und Amazon nehmen den Kinos Filme wie „Roma” weg und sollen angeblich schuld am Rückgang der Besucherzahlen sein. Nun belegen Studien, wie wenig an diesen Vorwürfen wirklich dran ist

    Netflix / Samsung

    Am 14. Dezember hat Netflix seinen neuen Film „Roma” auf der hauseigenen Streaming-Plattform veröffentlicht. Ein Film, der oft sinnbildlich für den angeblichen Tod des Kinos genannt wird. „Roma” ist nämlich wie gemacht für die große Leinwand, läuft jedoch, eine kurze Auswertung in einigen ausgewählten Lichtspielhäusern ausgenommen, exklusiv auf Netflix. Wenn jetzt auch schon so bildgewaltige 65mm-Werke dem Kino genommen werden, kann das doch nur endgültig das Ende der Leinwand bedeuten. Spätestens seitdem auch als Kinoveröffentlichung geplante Titel wie „The Cloverfield Paradox” oder „Auslöschung”, der in den USA beispielsweise ins Kino kam und hierzulande exklusiv als Stream erschien, für teures Geld eingekauft werden, um sie als VOD-Titel zu vertreiben, wurde Netflix für viele zum Buh-Mann. Ein bösartiges, profitgieriges Unternehmen, das dem guten alten Kino die Zuschauer wegnehmen will.

    Das Filmtheater hat in den letzten Jahren in der Tat Besucher verloren, während sich Video-On-Demand im Aufschwung befindet. Auch wenn man meistens Netflix mit dem Thema in Verbindung bringt, gilt das Streaming generell für nicht wenige als Abschaffer der Kino-Leidenschaft. Doch dieser Groll gegen Amazon, Netflix und in Zukunft auch Disney+ und Co. ist tatsächlich ein großer Irrtum, genauer gesagt ist es totaler Quatsch. Streaming löst vielleicht in Zukunft das Fernsehen ab, aber noch lange nicht das Kino.

    Netflix

    Die Studien belegen es

    Variety hat kürzlich einen Bericht veröffentlicht, der aufzeigt, dass sich Kino und Streaming keineswegs im Wege stehen: Das US-Branchenblatt behauptet, Ergebnisse einer Studie der sogenannten EY’s Quantitive Economics and Statistics Group vorliegen zu haben. Aus dieser geht hervor, dass die Menschen, die mehr Filme über Streaming beziehen, ebenso auch öfter den Weg ins Filmhaus suchen. Genauer gesagt wird Streaming über Besucher, die mehr als neunmal pro Jahr ins Kino gehen, häufiger konsumiert als über jene, die jährlich nur ein oder zwei Kinotickets lösen.

    Von den Personen, die in den letzten zwölf Monaten gar nicht ins Kino gingen, soll fast die Hälfte auch keinerlei Streaming-Content bezogen haben. 18% dagegen, die dem Kinosaal fern blieben, würden im Schnitt acht Stunden pro Woche Video-On-Demand-Services nutzen.

    Und auch in Deutschland zeigt sich ein höchst aufschlussreiches Bild: Im Mai 2018 hat die Filmförderungsanstalt eine umfangreiche Studie zum Kinomarkt 2017 veröffentlicht. Im sogenannten „Kinobesucher” heißt es, dass 55% aller Streaming-Nutzer auch ins Kino gehen. Andersherum greifen 23% der deutschen Kinobesucher auch gerne auf das VOD-Angebot von Netflix, Amazon Prime Video und Konsorten zurück. Nur 10% der Befragten bezeichnen sich dabei als „Pure Streamer”, konsumieren Filme also ausschließlich online auf Abruf, während 37% als reine Cineasten hervorgehen, die neue Veröffentlichungen bevorzugt auf der Leinwand erleben. Darüber hinaus zahlen VOD-Abonnenten für ein Kinoticket sogar mehr als Nicht-Abonnenten.

    Tut Netflix dem Kino sogar gut?

    Zusammenfassend bedeuten diese Ergebnisse vor allem eines: Der Hang zu Netflix steht im Einklang mit der Liebe zum Kino. Wer viel streamt, der geht auch oft ins Lichtspielhaus. Man könnte also gar meinen, Netflix und Co. schaden nicht dem Kino, sondern sie kommen ihm zugute. In Wirklichkeit erhöht sich durch das hohe Angebot der Online-Videotheken nämlich unser allgemeiner Filmkonsum deutlich und damit auch die Begeisterung für das Medium. Nur ein Beispiel: Wer auf Amazon Prime Video etwa zum ersten Mal einen Film von Denis Villeneuve sieht, wird vielleicht so begeistert sein, dass er sich das nächste Werk des Regisseurs im Kino ansehen wird.

    Genauso kann es aber auch sein, dass ein Kinobesucher von „Star Wars: Episode 7” eher enttäuscht wurde, sodass er sich das Spin-off „Rogue One” lieber erst daheim ansehen wird, wenn es etwa auf Netflix erscheint. Die Leidenschaft fürs Kino ist ein Wechselspiel und längst plattformübergreifend, kein Abrufmedium löst das andere ab (zumindest im Moment noch nicht). Ähnlich sieht das auch Phil Contrino, Medienchef der National Association Of Theater Owners, dem Verband amerikanischer Kinobetreiber: „Es gibt keinen Krieg zwischen Kino und Streaming”, bekräftigt dieser. „Menschen, die Filme lieben, schauen diese auf verschiedenen Plattformen. Alle diese Möglichkeiten haben eine Daseinsberechtigung.”

    Weniger Besucher, dafür mehr Rückkehrer

    Fakt ist dennoch, dass das Kino seine Besucher verliert. In Deutschland gingen 2017 laut FFA-Studie jedenfalls weniger Menschen in die Filmpaläste als noch im Jahr davor, im Sechs-Jahres-Vergleich ist bei der Altersgruppe der 20- bis 29-Jährigen sogar ein Verlust von 36% zu verzeichnen. Aufgrund verloren gegangener Besucher seien 19 Millionen Euro weniger Einnahmen als 2016 verzeichnet worden. Auf der anderen Seite konnte bei den Einnahmen durch Intensivierung im Jahr 2017 ein Plus von 56 Millionen Euro verzeichnet werden. Gemeint ist damit, dass es im vergangenen Jahr zwar an sich weniger Besucher gab, diese dafür aber generell häufiger als zuvor ins Kino gehen. Trotz eines Verlusts von 5 Millionen Euro aufgrund des Wechsels von Besuchern zu anderen Formaten macht das im Vergleich zu 2016 insgesamt ein Umsatzplus von 32 Millionen Euro.

    Fast die Hälfte der 2017 gekauften Eintrittskarten stammt von Zuschauern, die mehr als sieben Mal im Jahr ins Kino gehen, sogenannte Heavy User. Intensität geht also vor Quantität, Stammkunden sind wichtiger denn je. Das Kino mag also weniger die Massen in seine Säle locken, den Streamingdiensten die Schuld am steigenden Publikumsschwund zu geben, wäre allerdings falsch.

    Anders sieht das beim Fernsehen aus: Wie wir im September 2018 berichteten, wird das lineare Fernsehen von Video-On-Demand-Angeboten überholt. Netflix und Co. könnten also tatsächlich eines Tages den Tod für das gewöhnliche TV-Programm, das immer weniger Mehrwert hat, bedeuten. Doch eine Kinoleinwand kann Netflix nicht ersetzen – und das wissen auch die Zuschauer. Dass viele von ihnen nicht mehr den Gang in die Filmpaläste wagen, muss andere Gründe haben. Eventuell dürften die großen Kinoketten sogar selbst ihren Teil zu den weniger verkauften Karten beisteuern: Im Vergleich zum Vorjahr ist in Deutschland etwa der durchschnittliche Ticketpreis um zwei Prozent auf 8,90 Euro angestiegen. Mehr als 42 Euro gaben die Deutschen im Jahr 2017 durchschnittlich für ihre Eintrittskarten aus – für den einen oder anderen mittlerweile vielleicht einfach zu viel..

    Netflix

    Der Fall “Roma”

    Den erbitterten Konkurrenzkampf zwischen Kino und Streaming gibt es also eigentlich gar nicht. Sein Anti-Kino-Image wird Netflix aber wohl dennoch nicht so schnell los. Und das liegt vor allem an der exklusiven Firmenpolitik. Musste der VoD-Gigant seine Filme bisher der Leinwand unbedingt vorenthalten und auch den Venedig-Gewinner „Roma” kaufen, der ohne diesen Schritt mit Sicherheit auch hierzulande einen Verleih samt regulärer Kinoauswertung gefunden hätte? Zwar brachte der Streaming-Gigant Alfonso Cuarons Meisterwerk nun tatsächlich noch in die Filmpaläste, jedoch nur für kurze Zeit – und das offensichtlich auch nur, um so die Mindestanforderungen für eine Oscar-Einreichung zu erfüllen. Folglich lief das gefeierte Drama hierzulande beispielsweise in den Kinos der CineStar-Kette, während kleine Programmkinos den Film boykottierten.

    Eine sechstätige Auswertung, wie sie in Deutschland stattfand, lohnt sich wenig bis gar nicht (erst nach mehreren Wochen verringert sich der Gewinnanteil, den die Betreiber an die Verleiher abgeben müssen). Man kann die Theaterleitungen also nur zu gut verstehen, doch sind wir mal ehrlich: Würde „Roma” nicht zu Netflix gehören und nun ganz normal im Kino laufen, wer würde sich diesen Film überhaupt ansehen? Außer den üblichen Cineasten, die gerne ins örtliche Programmkino gehen, würde der Arthouse-Film wohl nur wenig Zuschauer finden und daher auch kein Kassenschlager werden. Die großen Multiplex-Kinos würden den Film eventuell gar nicht erst ins Programm nehmen, wodurch „Roma” letztendlich wie so viele Festival-Beiträge kaum Beachtung geschenkt bekäme, Goldener Löwe hin oder her. „Roma” ist eine mexikanische Produktion, die man nur im spanischen Originalton mit Untertiteln sehen kann. Das Bild ist schwarz-weiß, zudem wirken keinerlei bekannte Stars mit. Das auf einer Arri Alexa 65 gedrehte Drama ist im Kino zwar deutlich besser aufgehoben als auf dem heimischen Fernseher, nichtsdestotrotz hätte der Film aber nur vereinzelt Filmfreunde ins Kino gelockt..

    Dass Filme von Streaming-Anbietern produziert werden, muss also noch lange nichts Schlechtes sein. Dennoch setzen auch wir uns dafür ein, weiterhin ins Kino zu gehen, damit Titel wie „Roma” keine VoD-Auswertung samt Boykott-Skandal benötigen, um ihre verdiente Aufmerksamkeit zu erlangen. Anders als beim neuen Film von Alfonso Cuarón kann man Netflix-Produktionen wie „Auslöschung” oder „Mogli” nämlich durchaus als Blockbuster sehen, die mit Sicherheit auch ihre Zuschauer in den größeren Kinoketten gefunden hätten. Netflix würde sich nun vielleicht weniger Gegenwind ausgesetzt sehen, wenn man „Roma” länger als bloß eine Woche den Kinos zur Verfügung gestellt hätte. Einen guten Weg zeigt hier Amazon: Dort bekommen Eigenproduktionen wie „Manchester By The Sea” oder „The Big Sick” in der Regel eine reguläre Kinoauswertung durch einen externen Verleih, bevor sie später auf der hauseigenen Streaming-Plattform veröffentlicht werden.

     

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