Ein blutverschmiertes Messer in der Tasche, Sex mit dem Opfer und unweit vom Tatort aufgegriffen: Für Nasir „Naz“ Khan (Riz Ahmed) sieht die Lage nach einer verhängnisvollen Nacht alles andere als rosig aus. Dabei hat der Abend für den pakistanischstämmigen Studenten noch so vielversprechend begonnen, war er doch zu einer angesagten Party in Manhattan eingeladen. Von seiner Mitfahrgelegenheit versetzt, hatte er sich prompt das Taxi seines Vaters geschnappt. Doch nachdem er unterwegs Bekanntschaft mit einer schönen Unbekannten (Sofia Black-D'Elia) gemacht hatte, nahm das Schicksal seinen Lauf. Ein paar Drogen und gemeinsame Stunden in der Wohnung der jungen Frau später, erwacht Naz aus dem Schlaf und findet sie erstochen im Bett vor.
Die Ausgangssituation in der neuen HBO-Serie „The Night Of - Die Wahrheit einer Nacht“ ist beklemmend und rätselhaft zugleich. Hat Naz die geheimnisvolle Frau, mit der er sich kurz zuvor noch so blendend verstanden hatte, wirklich umgebracht? Zutrauen kann man es dem schüchternen Jungen mit dem unschuldigen Blick kaum. Doch deuten alle Indizien zweifellos auf den Studenten als Täter hin. Für Zeugen und einige Polizisten besteht schon aufgrund seiner Herkunft kein Zweifel an seiner Schuld. Naz selbst kann sich an die Stunden vor dem Fund der Leiche jedoch nicht mehr erinnern. Was ist also tatsächlich in der besagten Nacht vorgefallen?
Um das Interesse an der Beantwortung dieser Frage aufzubauen, gehen Drehbuchautor Richard Price („Kopfgeld“) und Regisseur Steven Zaillian („Das Spiel der Macht“) geschickt vor. Ebenso subtil wie effektvoll etablieren sie das fast schon hypnotische Setting des nächtlichen New York. Der Auftakt zur Serie lebt von der dichten Atmosphäre, die Zaillian ganz gemächlich mit stimmungsvollen und wohlkomponierten Bildern der US-Metropole einfängt. Doch wird Nasirs Trip durch die Nacht auch von einer unheilvollen und noch etwas schwer zu greifenden Vorahnung bedrohlich überschattet: Verschiedene Gestalten begegnen ihm und seiner Begleitung und mustern sie teils skeptisch, Aufnahmen von Überwachungskameras, über die deutlich wird, dass im Grunde jeder Schritt von Naz in dieser Nacht irgendwo festgehalten wird, werden mehrfach in den Fokus gerückt. Dass dies später noch von Bedeutung sein wird, ist schnell klar und wird umso eklatanter, nachdem der zentrale Mord geschehen ist.
Von da an ziehen Price und Zaillian die Spannungsschraube noch einmal ein Stück an, ohne dabei aber etwa ihren zurückgenommenen Stil gegen eine effektheischendere Inszenierung einzutauschen. Naz flieht (mit der vermeintlichen Tatwaffe) in Panik vom Tatort, wird jedoch schon wenig später von der Polizei aufgegriffen, allerdings nur wegen eines geringeren Verkehrsvergehens. Die Gesetzeshüter sind dabei wiederholt drauf und dran, den Aufgelesenen einfach laufen zu lassen. Immer wieder deuten sich für Naz kleine Auswege an, doch ist eine Verhaftung aufgrund der erdrückenden Beweislast letztlich unvermeidlich.
Das Mitfiebern mit dem mutmaßlichen Mörder wird nicht zuletzt durch Riz Ahmeds pointiertes Spiel erleichtert. Der britische Schauspieler und Hip Hopper konnte nach der aberwitzigen Terrorismus-Komödie „Four Lions“ spätestens mit Dan Gilroys Meisterwerk „Nightcrawler“ seine Hollywood-Karriere gehörig in Schwung bringen und wird in diesem Jahr noch als ehemaliger Imperialer Pilot Bodhi Rook in „Rogue One: A Star Wars Story“ zu sehen sein. Als introvertierter und etwas naiver Naz hat er die Sympathien in „The Night Of“ schnell auf seiner Seite und doch lässt seine Darstellung durchaus Zweifel an der Unschuld seiner Figur zu. Hier und da hätte man sich von Naz angesichts der verzwickten Lage vielleicht einen etwas emotionaleren Ausbruch gewünscht, doch lässt die von Ahmed anschaulich vermittelte Schockstarre die Lethargie durchaus nachvollziehbar erscheinen.
Obwohl Naz‘ Situation völlig ausweglos scheint, gibt es gegen Ende der ersten Folge einen kleinen Hoffnungsschimmer in Form des Strafverteidigers Jack Stone (John Turturro), der auf Mandantensuche im Polizeirevier aufkreuzt. In der Auftaktepisode hat John Turturro („Barton Fink“) als Anwalt noch nicht viel Gelegenheit zu glänzen, doch verleiht er der Figur schon in den ersten Momenten ein einnehmendes Wesen, das sich aus ausgelaugter Routiniertheit und gleichzeitigem unbeschwerten Optimismus zusammensetzt. In dieser Hinsicht ist Turturro zweifellos ein adäquater Ersatz für den verstorbenen James Gandolfini (der noch immer als Ausführender Produzent der Serie genannt wird) und den zwischenzeitlich eingesprungenen Robert De Niro, die die Rolle vor ihm spielen sollten.
Der ersten „The Night Of“-Folge gelingt es damit meisterlich, die Neugier auf die restlichen sieben Episoden der Miniserie in die Höhe zu treiben. Ab dem heutigen 29. September 2016 haben Sky-Abonnenten die Möglichkeit, das lose auf der britischen Produktion „Criminal Justice“ basierende Format im linearen Fernsehen zu verfolgen. Sky Atlantic HD strahlt „The Night Of“ immer donnerstags um 21.00 Uhr und dabei auch erstmals auf Deutsch aus. Wir empfehlen jedoch ganz klar die ebenfalls verfügbare englische Originalversion, da die Synchronfassung im Fall der Hauptfiguren zwar durchaus solide ist, bei den Nebencharakteren mit weniger professionellen Sprechern aber doch arg zu wünschen übrig lässt und dadurch gar die wohlig-düstere Stimmung etwas in Mitleidenschaft zieht.
Die einzelnen Folgen können ab dem jeweiligen Tag nach ihrer Sky-Ausstrahlung auch über Video-On-Demand-Anbieter wie Amazon, iTunes, Google Play und Maxdome käuflich erworben werden.