Die Anti-Kampagnen bei den Oscars haben mittlerweile eine fast ähnlich umfangreiche Geschichte wie die eigentlichen Werbekampagnen. Während natürlich jedes Studio, jeder Verleih und jeder Produzent versucht, möglichst viele Oscar-Wähler positiv gegenüber dem eigenen Film zu stimmen, greifen viele auch zusätzlich darauf zurück, die Konkurrenten schlecht zu machen.
In den vergangenen Jahren gab es so im Vorfeld der Oscar-Wahlen immer wieder plötzlich auftretende massive Kritik an einem der aussichtsreich im Rennen liegenden Filme. Vor allem 2002 eskalierte die Situation als sich die Macher der Konkurrenten von "Beautiful Mind", "Moulin Rouge" und "In The Bedroom" öffentlich gegenseitig beschuldigten, hinter Schmutzkampagnen gegen die jeweils anderen Filme zu stecken. Danach beteuerten zwar alle Hollywood-Größen von solchen Mitteln Abstand zu nehmen, doch die Wahrheit sieht wohl anders. Laut Variety gibt es starke Anzeichen dafür, dass hinter massiven Kampagnen gegen Filme wie "12 Years A Slave" oder "Zero Dark Thirty" in den vergangenen Jahren auch die Konkurrenz steckte.
2014 finden sich erst einmal "Selma" und "The Imitation Game - Ein streng geheimes Leben" im Kreuzfeuer und natürlich ist nicht bewiesen, dass die Konkurrenz dahinter steckt. Denn wie immer bei diesen Anti-Kampagnen kommen die Vorwürfe aus einer dritten Ecke.
Bei "Selma", einem Film über Bürgerrechtler Martin Luther King, nahm sich Joseph A. Califano Jr. über zehn Tage Zeit, um in der Washington Post in einem ellenlangen Fortsetzungs-Hintergrundartikel gegen die angebliche historische Ungenauigkeit des Bio-Dramas zu wettern. Califano, der zu der Zeit, in der der Film spielt, eng mit dem damaligen US-Präsidenten Lyndon B. Johnson zusammenarbeitete, bemängelt vor allem die Darstellung Johnsons als anfänglichem Gegner der schwarzen Gleichberechtigungsbewegung. Er ging in seinem Statement so weit, dass er forderte, dass der Film beim weihnachtlichen Kinobesuch und bei der Award-Saison außen vor bleiben sollte. Califanos Wortwahl ("ruled out") wird von einigen sogar so interpretiert, dass er ein Verbot des Films fordert. Dass er explizit auf die Award-Saison eingeht, erhärte laut Variety den Verdacht, dass es eine von der Konkurrenz gesteuerte Aktion sein könnte. "Selma"-Regisseurin Ava DuVernay geht mit dem Vorwurf übrigens gelassen um. Man solle weder ihr noch Califano vertrauen, sondern sich einfach einen eigenen Eindruck verschaffen, ist ihre Bitte.
Der renommierte US-Journalist Christian Caryl, der lange Zeit auch in Deutschland lebte und u. a. für den Spiegel schrieb, knöpft sich derweil im The New York Review of Books das Drama "The Imitation Game" mit Benedict Cumberbatch und Keira Knightley vor. Auch dem Biopic über Mathematiker Alan Turing, der im Zweiten Weltkrieg für den britischen Geheimdienst die geheime Kommunikation der Nazis knackte, werden historische Ungenauigkeiten vorgeworfen. Einige der Szenen seien "riesiger Quatsch", so Caryl, der zudem den Machern zahlreiche Erfindungen von Inhalten vorwirft.
Der Vorwurf historischer Ungenauigkeit gegenüber Bio-Dramen ist kein neuer. Die Kollegen von Variety verweisen dazu sehr passend auf die letztjährigen Anschuldigungen gegen das Drama "Philomena" mit Judi Dench. Damals wurde die reale Philomena Lee, deren Erlebnisse bei der Suche nach ihrer Tochter als Vorbild für den Film dienten, gefragt, was sie von den Änderungen gegenüber der Wirklichkeit halte. Ihre mit einem Schulterzucken und einem Lächeln vorgetragene Antwort: "Es ist ein Film und daher ist es in Ordnung."
Von der Qualität der Filme jenseits der historischen Freiheiten können wir uns in Deutschland im kommenden Jahr ein Bild machen. "The Imitation Game - Ein streng geheimes Leben" startet am 22. Januar 2015. "Selma" folgt am 19. Februar 2015.