Seine Weltpremiere feierte „Tore tanzt“ am Donnerstag (23. Mai 2013) vor 1.500 Gästen bei den Filmfestspielen von Cannes. Der auf realen Ereignissen basierende Film handelt von dem jungen Jesus-Freak Tore (Julius Feldmeier), der mit religiösen Punks in Hamburg ein neues Leben beginnen möchte. Als er auf einer Raststätte die Familie um Benno (Sascha Alexander Gersak), dessen Frau Astrid (Annika Kuhl) und deren Kinder Sanny (Swantje Kohlhof) und Dennis (Til-Niklas Theinert) kennenlernt, freundet er sich spontan mit ihnen an und zieht wenig später bei ihnen in den Schrebergarten ein. Nach und nach merkt er, dass mit seiner neuen Gastfamilie etwas nicht stimmt. Zunächst muss Tore nur Demütigungen ertragen, doch die Situation verschärft sich schnell…
FILMSTARTS: Was hat dich an der Geschichte gereizt?
Katrin Gebbe: Mir geht es darum, zu zeigen, wie ein Held gegen Widerstände antritt, um sein Ideal zu verfolgen. Tore ist religiös motiviert, aber er ist vor allem auch ein Idealist. Die Frage bei Tore ist: Ist er dumm, ist er naiv, ist er kindlich? Oder ist er ein starker Kämpfer, den man sogar bewundern kann? Das ist die Gratwanderung, die er für mich macht. Und natürlich unterscheidet er sich in dem Märtyrer- und Heldentum von der Gruppe der Jesus-Freaks, aus der er stammt. Seine Freunde sind von der Suche nach dem Sinn, dem Spaßfaktor und dem Zusammengehörigkeitsgefühl motiviert. Tore löst sich aus diesem Umfeld, um dann ganz alleine und sehr qualvoll seinen eigenen Weg zu gehen.
Debüt-Regisseurin Katrin Gebbe
FILMSTARTS: Im Abspann steht, dass der Film auf wahren Begebenheiten beruht. Wie bist du auf diese gestoßen?
Katrin Gebbe: Es war tatsächlich der erste Schritt zum Film, dass ich auf eine Pressemitteilung gestoßen bin. In diesen Meldungen wird allgemein immer sehr klar einsortiert: Der Junge ist ein Opfer, die anderen sind die bösen Täter. Manchmal werden die Täter in der Zeitung auch als Monster betitelt. Das ist eine sehr einseitige Sichtweise. Ich denke, wenn man eine solche Begebenheit verfilmen möchte, gerade weil sie einen berührt, dann sollte man dem noch etwas hinzufügen. Ich habe versucht, aus diesem Protagonisten eine schillernde Hauptfigur zu machen, die Licht ist, die leicht daherkommt, positiv ist, die diesem ganzen Schrecken etwas entgegensetzen kann. Dieser Ansatz der Weiterentwicklung kam auch schon aus dem Mangel an Informationen, denn die Pressemeldungen waren nicht sehr ausführlich. Ich musste dieses Loch ausfüllen, das sich da plötzlich vor mir auftat. Ich glaube auch, dass es nicht nur einfach Opfer oder Täter gibt, sondern dass sich das bedingt und dass das Ganze eine Eigendynamik entwickelt. Genau das ist bei Tore so, dass er mit Benno und der kompletten Familie gemeinsam in einen Strudel gerät, selber zum Katalysator wird, der diese tragischen Ereignisse prägt und nicht nur ein Opfer ist.
FILMSTARTS: „Tore tanzt“ basiert als auf Pressemeldungen – wie viel vom Film ist denn wahr und wie viel ist künstlerische Freiheit?
Katrin Gebbe: Dass ein Junge von einer Familie versklavt wurde, ist so geschehen, allerdings im Ausland. Was ich besonders spannend fand, ist die Tatsache, dass es sich um einen jungen Mann gehandelt hat, also nicht um ein typisches Opfer, ein Kind oder eine Frau, wie das oft der Fall ist. Ich habe gleich gesehen, dass darin Potenzial steckt, es vielleicht eine kleine Liebesgeschichte in dieser Familie und einen Vater-Sohn-Konflikt geben könnte. Das versucht man dann zu betonen. Der Film ist aber kein typisches deutsches Sozialdrama, er zeigt auch nicht die klassische White-Trash-Unterschicht mit allem, was dazu gehört. Ich habe viel in der Geschichte überhöht. Es sind Charaktere geworden, nicht nur normale Menschen. Sie sind Sinnbilder für bestimmte Aspekte dieser Opfer-Täter-Beziehung. Jede einzelne Beziehung zu Tore hat einen bestimmten Schliff.
Julius Feldmeier in "Tore tanzt"
FILMSTARTS: Hast du Vorbilder? Zum Beispiel Lars von Trier, an den uns deine Art der Inszenierung erinnert hat?
Katrin Gebbe: Den finde ich natürlich ganz großartig (lacht). Was bei Lars von Trier auch toll ist: Er provoziert und er ist mutig. Mir gefällt die Vielfältigkeit seines Werks, was er alles gemacht hat in seinem Leben. Er probiert ganz unterschiedliche Dinge aus, ist immer sehr eigensinnig. Ich denke, er kümmert sich auch wenig darum, was andere Leute von seiner Arbeit halten. Das ist gar nicht so einfach. Wenn alle Zuschauer im Publikum einen ausbuhen, ist das sicherlich keine angenehme Erfahrung. Es ist spannend, als Künstler Grenzen auszutesten. Das finde ich bei Lars von Trier ganz großartig. Aber auch Darren Aronofsky, der jetzt mit „Black Swan“ ganz bekannt wurde, der aber auch vorher schon viele große Filme gemacht hat, hat bei jedem Werk einen eigenen Stil. Er geht immer an die Stellen, wo es weh tut. Dann ist da noch Jacques Audiard, der gerade mit „Der Geschmack von Rost und Knochen“ einen großartigen Film gemacht hat - das sind alles Leute, die starke düstere Geschichten erzählen.
FILMSTARTS: Wie sieht es mit einem Kinostart in Deutschland aus? Gibt es bereits Verhandlungen?
Katrin Gebbe: Ja, es gibt Verhandlungen. Ich weiß, dass der Film nach Amerika verkauft ist. Darüber freue ich mich sehr. Ich habe die Jungs vom US-Verleih Drafthouse gestern Abend kennengelernt und ein super Gefühl. Die haben auch „The Act of Killing“ und „Bullhead“ im Programm - das sind Hammerfilme, die kann ich jedem empfehlen, sie sind düster und bewegend. In den USA wird es auf jeden Fall einen Kinostart geben, ich hoffe, in Deutschland auch, aber wann, weiß ich noch nicht. Erst einmal wird „Tore tanzt“ beim Filmfest Hamburg im September seine Deutschlandpremiere feiern.
Die Weltpremiere von "Tore tanzt" in Cannes: Das Team auf den Stufen des Salle Debussy.