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Alfred Hitchcock ging zwar als Meister der Suspense in die Kinogeschichte ein, allerdings war er anderen Filmgattungen nicht abgeneigt. Nicht nur, dass er zu Karrierebeginn Romantikkomödien drehte, er war auch glühender Fan von Walt Disney und seinem Schaffen. Das äußerte sich besonders medienwirksam durch ein berühmt gewordenes Hitchcock-Zitat: „Walt Disney hat es begriffen: Seine Darsteller sind aus Papier – wenn er sie nicht mag, kann er sie zerreißen.“
Hinter dieser augenzwinkernden Gemeinheit gegenüber Schauspieltalenten verbarg sich eine deutlich tiefergehende Disney-Passion: Kaum hatte Hitchcock genügend Ruhm und Einfluss, ließ er sich für den Rest seines Lebens stets die neusten Disney-Filme in einem Privatkino zeigen. Wäre es nach dem „Vertigo“-Regisseur gegangen, hätte er seiner Disney-Begeisterung zudem auf deutlich imposanterem Wege gehuldigt: Alfred Hitchcock wollte einen Thriller in Disneyland drehen, wurde aber von Walt Disney höchstpersönlich davon abgehalten.
"The Blind Man": Ein übernatürlicher Serienkiller-Thriller im Disneyland!
Die Idee zum Disneyland-Horror kam 1960 auf, kurz nachdem Hitchcocks Killer-Klassiker „Psycho“ die Kinos eroberte – und fünf Jahre nach der Eröffnung von Walt Disneys malerischem Themenpark. Hitchcock wollte sich zu diesem Zeitpunkt unbedingt erneut mit seinem „Der unsichtbare Dritte“-Autoren Ernest Lehman zusammentun. Dem stand der Sinn nach einem Originalstoff:
Lehman entwickelte die Idee eines Horror-Thrillers über einen blinden Jazzpianisten namens Jimmy Shearing, der ein Augentransplantat erhält und somit Augenlicht erlangt. Daraufhin lässt er es sich nicht nehmen, mit seinen neuen Augen sowie seiner Familie Disneyland zu besuchen. Doch beim Besuch einer Wildwestshow fährt es ihm eiskalt den Rücken runter: Shearing sieht, wie er erschossen wird – dabei passiert ihm aber nichts!
Nach und nach dämmert es ihm: Auf wundersame Weise bescheren ihm seine neuen Augen Erinnerungen an das Leben ihres früheren Besitzers – sowie an dessen brutale, rätselhafte Ermordung. Shearing findet heraus, dass dieser Mord kein Einzelfall war, und beschließt, den Serienmörder aufzuhalten.
Während der Großteil des Films im Disneyland spielen und gedreht werden sollte, planten Lehman und Hitchcock für das spektakuläre Finale eine Verfolgungsjagd auf dem weltberühmten Kreuzfahrtschiff RMS Queen Mary. Für die Hauptrolle hatte Hitchcock seinen mehrfachen Hauptdarsteller James Stewart auserkoren. Außerdem wollte der „Das Fenster zum Hof“-Regisseur für einen Cameo die gefeierte Opernsängerin Maria Callas engagieren:
Laut Patrick McGilligans Hitchcock-Biografie „A Life In Darkness And Light“ sollte Callas sich selbst spielen: In einer Sequenz sollte sie während eines Bühnenauftritts einen Mord beobachten, woraufhin eine von ihr gesungene, majestätische Note zum verängstigten Hilfeschrei mutiert, den das ignorante Publikum nicht als solchen erkennt, sondern frenetisch applaudiert.
So fabelhaft dies wirken mag: Der unter dem Titel „The Blind Man“ entwickelte Reißer stand unter keinem guten Stern. Beispielsweise lehnte Stewart die ihm frühzeitig angebotene Hauptrolle ab, weil er zu beschäftigt war. Sukzessive wurde die Rolle neu entwickelt, um „In 80 Tagen um die Welt“-Star David Niven oder einen Darsteller ähnlicher Couleur zu gewinnen.
Ein wütender Walt und ein frankophiler Hitchcock mit Fernweh
Den drastischsten Einfluss auf die Entwicklung von „The Blind Man“ hatten jedoch die Hollywood-Branchenblätter: Wie Hitchcock-Biograf John Russell Taylor in seinem Standardwerk „Hitch: The Life And Times Of Alfred Hitchcock“ beschreibt, erfuhr Walt Disney erst durch Branchenberichte von den „The Blind Man“-Plänen. Das muss Disney auf dem falschen Fuß erwischt haben:
Laut Taylor setzte Disney sofort ein Antwortschreiben auf. Er werde es Hitchcock keinesfalls erlauben, auch nur einen einzigen Meter Film hinter den Toren Disneylands zu drehen. Grund dafür sei der Film gewesen, auf den Hitchcock und Lehman noch einen drauflegen wollten: Disney habe „Psycho“ als „widerlich“ empfunden.
Nach dieser Absage war Not am Mann – erst recht, weil Lehman und Hitchcock nicht prompt gewillt waren, ihre restlichen zentralen Ideen hinter „The Blind Man“ aufzugeben. Sie modelten das Skript um und machten beispielsweise aus dem Disneyland-Besuch eine Weltumrundung auf einem Kreuzfahrtschiff. Darüber hinaus bestand Hitchcock plötzlich auf einer Actionszene in der malerischen, südfranzösischen Stadt Carcassonne – nur wenige Jahre, nachdem seine Lust auf einen Frankreich-Urlaub als Sprungbrett für die Entwicklung des romantisch-humorvollen Thrillers „Über den Dächern von Nizza“ diente (mehr dazu hier).
Doch ohne die speziellen Reize und Möglichkeiten des Disneyland-Settings entglitt das Projekt dem kreativen Doppel: Es schien ihnen unmöglich, all ihre Ideen plausibel in eine Handlung zu zwängen, sie hatten das Gefühl, bloß noch haarsträubende Zufälle aneinanderzureihen. Eines Tages riss Lehman die Reißleine und erklärte Hitchcock, dass er den Film lieber fallen lassen möchte als weiter die Storyprobleme auszubügeln. Laut Hitchcock-Historiker McGilligan war es dieses Mal der „Bei Anruf Mord“-Regisseur, der die unerwartete Nachricht in den falschen Hals bekam:
Hitchcock sei stinkwütend gewesen und habe Lehman geschworen, nie wieder mit ihm zusammenzuarbeiten. Ganz so schlimm war es schlussendlich nicht: Zwar kam es zum Bruch zwischen Lehman und Hitchcock, allerdings konnte er etwa eineinhalb Jahrzehnte später gekittet werden – Lehman verfasste das Drehbuch zur Thrillerkomödie „Familiengrab“, Hitchcocks finaler Regiearbeit.
Nach "The Blind Man" ist vor den Vögeln
Im Gegensatz zur Hitchcock/Lehman-Geschäftsbeziehung ging die professionelle Freundschaft zwischen Disney und Hitchcock ohne Blessuren aus der Causa „The Blind Man“ hervor: Entgegen zahlreicher Berichte wurde Hitchcock durch seine Disneyland-Drehpläne und die Brutalität von „Psycho“ nicht zur Persona non grata! Ganz im Gegenteil: Hitchcock und Disney blieben in den Folgejahren in ergiebigem Kontakt.
Beispielsweise unterbreitete Walt Disney dem Erfolgsregisseur Besetzungsideen für den Psychothriller „Marnie“. Zudem stellte Disney für das Sean-Connery-Vehikel ein mechanisches Pferd zur Verfügung, das sich in seinem Besitz befand, wie Tony Lee Moral in „Hitchcock And The Making Of Marnie“* festhält. Noch davor kam es zur intensivsten Zusammenarbeit der Hollywood-Giganten:
Für die Trickeffekte in „Die Vögel“ durfte Hitchcock auf exklusive Technologien der Disney-Studios zurückgreifen. Außerdem übernahm Micky-Maus-Mitschöpfer und Disneys studiointernes Technikass Ub Iwerks eine federführende Position in der Postproduktion des Tierhorror-Meilensteins. An ein Wiederaufflammen der „The Blind Man“-Grundidee war dennoch nicht zu denken.
Erst 2015 gab es ein verspätetes Happy End für das Projekt – zehn Jahre nach Lehmans Tod und mehrere Dekaden nach dem Ableben von Hitchcock und Walt Disney: Die BBC gab eine Hörspiel-Adaption des Stoffs in Auftrag, für die „Sherlock“-Macher Mark Gatiss eine wiederentdeckte, unfertige Version des Lehman-Drehbuchs vervollständigte. Die radiotaugliche Überarbeitung dessen übernahm „The New Pope“-Produzent Laurence Bowen.
Im Hörspiel heißt der Protagonist nun Larry Keating und wird von „Dr. House“-Star Hugh Laurie gesprochen, „Shaun Of The Dead“-Nebendarsteller Peter Serafinowicz ist unterdessen als Alfred Hitchcock zu hören, der als Erzähler durch das Hörspiel führt. Wie einst vom echten Hitchcock gewünscht, spielen einige Szenen des Hörspiels im Disneyland, das Keating noch vor allen anderen Sehenswürdigkeiten der Welt bewundern möchte.
Und falls ihr nun wissen möchtet, wie Lehman und Hitchcock interagierten, wenn sie nicht gerade durch eine mangelnde Disneyland-Drehgenehmigung ins Schleudern gerieten, dürft ihr den folgenden Artikel keinesfalls auslassen:
Dieser Thriller-Meilenstein ergibt keinen Sinn: So schuf ein gelangweilter Autor einen der größten Suspense-Klassiker*Bei den Links zum Angebot von Amazon handelt es sich um sogenannte Affiliate-Links. Bei einem Kauf über diese Links oder beim Abschluss eines Abos erhalten wir eine Provision. Auf den Preis hat das keinerlei Auswirkung.