Es gibt wohl kaum eine moderne Spielart des Horrorkinos, die die Meinungen des Publikums so sehr spaltet wie das durch „Blair Witch Project“ populär gewordene Found-Footage-Genre. Die Kamera wackelt, bis einem schwindelig wird, die Hälfte der Zeit ist das Bild so schwarz, das man kaum etwas erkennt, und die Logik wirft man für gewöhnlich am besten schon mit der der ersten Einstellung aus dem Fenster: An triftigen Gründen dem Genre misstrauisch gegenüber eingestellt zu sein, mangelt es wahrlich nicht. Und die regelrechte Flut an miesen Found-Footage-Filmen, die im Horror-Nirvana der Streamingdienste ihr Zuhause finden, hilft auch nicht gerade.
Aber hin und wieder spuckt das Genre regelrechte Grusel-Unikate aus, die die Limitierungen des Formats als Chance begreifen und sie voll und ganz zu ihrem Vorteil ausspielen. Viele davon sind heute moderne Klassiker: Zum Beispiel das bereits erwähnte „Blair Witch Project“, aber auch „Paranormal Activity“, „Cloverfield“ oder „REC“. Während sich diese Produktionen ihren Status auf den größten Leinwänden der Welt verdienten, reifte in den hintersten Regalen der Videothek ein kleines australisches Juwel heran, das es mühelos mit ihnen aufnehmen kann.
„Lake Mungo“, der erste und einzige Film des Regisseurs Joel Anderson, schlug in seinem Veröffentlichungsjahr 2008 keine großen Wellen, avancierte jedoch mit der Zeit besonders unter Horrorfans zum regelrechten Kultfilm. Zugegeben: Man muss ein wenig Geduld mitbringen, aber wer das tut, wird mit einem der immersivsten und unheimlichsten Horrorfilme der letzten 20 Jahre belohnt.
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Darum geht's in "Lake Mungo"
In der australischen Kleinstadt Ararat erleidet die Familie Palmer eine fürchterliche Tragödie: Beim Schwimmen in einem Stausee verschwindet die 16-jährige Tochter Alice (Talia Zucker). Bei der Suche nach ihr schlägt nervöse Hoffnung jedoch schnell in blankes Entsetzen um, als ein Suchtrupp ihre Leiche findet. Die Familie beerdigt Alice, doch das Kind scheint noch nicht bereit zu sein, ins Jenseits überzutreten.
Wenige Tage nach ihrer Beerdigung beginnen die Palmers Geräusche in ihrem Haus zu hören. Als der Sohn Matthew (Martin Sharpe) in der Folge beginnt, Kameras im Haus aufzustellen, um die Vorkommnisse zu filmen, verdichten sich die Anzeichen, dass es sich bei dem Geist tatsächlich um das ertrunkene Kind der Palmers handelt.
Von neuer Hoffnung getrieben, schalten die Eltern Russell (David Pledger) und June (Rosie Traynor) ein Medium ein, das sie ihrem Kind wieder näher bringen soll. Stattdessen legt der Parapsychologe Ray (Steve Jodrell) offen, dass Alice wohl ein Doppelleben führte. Eine Enthüllung, die nur noch mehr Fragen aufwirft, und die Familie immer wieder zurück zum abgelegenen Lake Mungo führt, wo sie der düsteren Vergangenheit ihrer Tochter ins Gesicht sehen müssen...
Das macht "Lake Mungo" so gruselig
„Lake Mungo“ ist viel mehr als ein lupenreiner Found-Footage-Film, denn Regisseur Joel Anderson geht seine Prämisse unter dem Blickwinkel einer Mockumentary an, die immer wieder gespenstische Wackelaufnahmen und schlecht belichtete Bilder als Beweisstücke anführt. Dadurch, dass Anderson den Horror auf diese Ebene reduziert, lässt er ihn ganz langsam Wurzeln schlagen, bis er so tief unter die Haut gekrochen ist, dass man ihn kaum mehr abschütteln kann. Er präsentiert einem dieselben Bilder wieder und wieder, bis er dann endlich mit einem wohlplatzierten Kamerazoom enthüllt, was man bisher übersehen hat.
Auf diese singulären Momente, die einem den Atem stocken lassen, arbeitet der Film hin, was den Raum dazwischen mit einer durchgehend fiebrig-erwartungsvollen Atmosphäre füllt. Selbst im Mittelteil, wenn der Film für knappe fünfzehn Minuten auf jeglichen Grusel verzichtet, fühlt man sich nicht wirklich sicher. Jeden Moment könnte das finale Puzzlestück auf seinen Platz fallen, nur tut es das eben nicht. Stattdessen folgen auf jede Antwort mindestens genauso viele weitere Fragen. Diese Spirale führt tiefer und tiefer in einen Hasenbau aus übernatürlichem Drama und realem Horror, der ebenso sehr berührt wie er schockiert.
„Lake Mungo“ ist die Definition eines Slow Burners, mehr Grusler als Schocker. Doch wenn sich Anderson im letzten Drittel genötigt sieht, den Film endgültig im Dies- oder Jenseits zu verorten, dann gelingt ihm das mit einer, wenn nicht vielleicht sogar DER unheimlichsten Szene in einem Horrorfilm der letzten zwanzig Jahre. Es ist die einzige Szene des Films, die als Jumpscare durchgeht, ihren eigentlichen Horror allerdings erst so richtig entfaltet, wenn ihre Implikationen einzusickern beginnen. Wenn man sich von der Geschichte packen lässt, erlebt man damit einen der wenigen Momente in einem Horrorfilm, der einen wirklich erschüttert zurücklässt.
Familiäre Abgründe à la Lynch
Wer sich beim Durchlesen der Handlung an „Twin Peaks“ erinnert fühlt, der täuscht sich nicht. Nicht nur der Familienname ist eine Reminiszenz an David Lynchs Serien-Meisterstück, auch das vom Altmeister so gerne genutzte Motiv der trügerischen kleinbürgerlichen Idylle, der Abgründe hinter dem Gartenzaun, nutzt Anderson als Kernthema. Seine immer wieder Haken schlagende Brotkrumenspur beschwört dabei ein ähnliches Level an Unwohlsein wie „Fire Walk With Me“, das am Ende in eine bittersüße Melancholie mündet.
Das funktioniert gerade deshalb so grandios, weil „Lake Mungo“ nicht nur als Horrorfilm, sondern auch als Mockumentary brilliert. Das Schauspiel der Laiendarsteller*innen wirkt aus dem Leben gegriffen, die Emotionen, die sich in ihren Gesichtern spiegeln, hat man so schon persönlich in anderen Personen gesehen. Man möchte sie wachrütteln, sie ohrfeigen, sie anfeuern. Aber über die meiste Zeit möchte man sie einfach nur in den Arm nehmen.
Andersons Debüt ist genauso ein Film über Geister, wie es auch ein Film über das sich selbst Belügen und Loslassen ist. Über die Lügen einer Kameralinse, und über die ernüchternde Wahrheit, selbst die Personen, die einem am nächsten standen, nicht wirklich gekannt zu haben. Darin liegt schlussendlich vielleicht der größte Horror von allem.
Auf der Suche nach einem weiteren Horror-Highlight? Dann könnte „Knock Knock“ mit Keanu Reeves etwas für euch sein. Warum sich der Film lohnt, erklärt euch FILMSTARTS-Redakteur Pascal Reis in seinem Streaming-Tipp:
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