Alle 10 Jahre stellt das britische Magazin Sight & Sound die Frage nach dem besten Film aller Zeiten. Befragt werden Expert*innen und Filmkenner*innen auf der ganzen Welt, sodass es als die beste dieser Umfragen gilt, quasi die offizielle Wahl des besten Films aller Zeiten. Nachdem 50 Jahre lang „Citizen Kane“ diese Bestenliste aller Bestenlisten anführte, lag zuletzt 2012 Hitchcocks „Vertigo - Im Reich der Toten“ an der Spitze. Bei der jüngsten Befragung 2022 gab es nun einen überraschenden neuen Gewinner, den die 1.600 Befragten kürten: Chantal Akermans „Jeanne Dielman, 23 Quai du Commerce, 1080 Bruxelles“.
Das hochexperimentelle Werk ist eine kleine Revolution: Minutiös wird hier der Alltag einer Frau beinahe in Echtzeit geschildert – eine radikale Inszenierung, wie sie das Kino bis dato noch nicht kannte. „Jeanne Dielman“ ist ein Meilenstein des experimentellen und auch des feministischen Kinos – und doch in Deutschland nur selten zu sehen. Lokale Heimkino-Veröffentlichungen gibt es nicht, auch sonst kommt man meist nur via Import an den Film heran.
Aktuell habt ihr jedoch die Gelegenheit, das über dreistündige Meisterwerk bequem und gratis vom Sofa aus zu sehen: In der arte-Mediathek.
An gleicher Stelle findet ihr übrigens noch diverse weitere Arbeiten von Chantal Akerman, wie etwa „Golden Eighties“, „Die Gefangene“ oder „Ich, du, er, sie“, sowie einige Dokumentationen mit Hintergrundinformationen über das Leben und Werk der belgischen Filmemacherin. Alles zur kostenfreien Verfügung.
Der Alltag in 24 Bildern pro Sekunde
Jeanne (Delphine Seyrig) ist eine junge, verwitwete Frau, die mit ihrem 16-jährigen Sohn (Jan Decorte) in einer Brüsseler Wohnung lebt. Ihr Alltag ist von Routinen geprägt: Kochen, sich waschen, das Bett machen. Zu diesen Routinen gehören auch gelegentliche Besuche von Männern, an die sie sich prostituiert. Mit Veränderungen oder Abweichungen von ihren Gewohnheiten tut sie sich schwer: So lassen verkochte Kartoffeln oder Musik sie unruhig werden. Drei Tage verfolgen wir Jeanne bei ihrem alltäglichen Tun, bis die Situation beim Besuch des dritten Mannes eskaliert …
„Jeanne Dielman“ spielt mit unseren Sehgewohnheiten und kann auch heute (oder heute vielleicht sogar noch mehr als in den 1970ern) aufgrund seines langsamen Erzähltempos an Grenzen bringen. Für den einen oder die andere mag dieses „Slow Cinema“ gar als langweilig gelten – man muss sich schon auf die vorherrschende Monotonie einlassen können.
Monotonie als Erlebnis
Und wenn man sich dann darauf einlässt und beginnt, genau hinzusehen, erkennt man die Kritik hinter der formellen Strenge und der inszenatorischen Konsequenz: Denn „Jeanne Dielman“ zeigt, was in der Regel im Film eben nicht gezeigt wird. Eine Frau beim Verrichten „unsichtbarer“ Arbeiten, die überwiegend auch Care Arbeit sind.
Diese in den Vordergrund stellend erzählt Akermann mit Jeannes Handlungen eine Geschichte von (durch Geschlechterrollen erzwungene) Ordnung, die ins Wanken gerät. Erzählt wird von Isolation, von tödlicher Langeweile innerhalb dieser Routinen – welche sich durch den Film auf die Zusehenden selbst vielleicht sogar überträgt.
„Jeanne Dielman“ ist sicher kein einfaches oder leicht zugängliches Werk. Es grenzt sich sich weit vom Mainstream ab und ist überhaupt erst durch die Wahl der Sight & Sound einem breiteren Publikum bekannt geworden. Definitiv ist es ein Film, der die Grenzen des Mediums sprengt und herausfordert. Nicht zuletzt ist es ein feministisches Meisterwerk, das in seiner Radikalität noch lange nachwirkt.
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