Nach seinem dreifach oscarprämierten Netflix-Ausflug „Roma“ hat Alfonso Cuarón sechs Jahre lang nicht Regie geführt. Nun meldet er sich endlich zurück: „Disclaimer“ ist ab dem heutigen 11. Oktober 2024 bei Apple TV+ zu sehen. Ihre Weltpremiere feierte die in sich abgeschlossene Mini-Serie beim Filmfestival in Venedig, wo auch wir bereits alle sieben Folgen sichten konnten. Basierend auf dem gleichnamigen Bestseller von Renée Knight* protzt der vertrackte Thriller mit einem wahrhaft hochkarätigen Cast – angeführt von Cate Blanchett (zwei Oscars für „Aviator“ und „Blue Jasmine“) und Kevin Kline (Oscar für „Ein Fisch namens Wanda“).
Aber die eigentlichen Stars sind diesmal nicht die Schauspieler*innen, sondern die zwei Kameramänner, die es zusammengenommen auf drei Oscars und unglaubliche 14 (!) Nominierungen bringen: Bruno Delbonnel („Die fabelhafte Welt der Amelie“, „Inside Llewyn Davis“) und Emmanuel Lubezki („Birdman“, „The Revenant“) sind absolute Meister ihres Fachs und haben nun erstmals gemeinsam an einem Projekt gearbeitet. Die Handlung von „Disclaimer“ wird – wie schon im Roman – aus verschiedenen Perspektiven erzählt – und für jede davon hat Alfonso Cuarón mit seinen Kameraleuten einen eigenen, unverkennbaren Look entwickelt.
Ein besonders perfider Rachefeldzug
Der Titel „Disclaimer“ bezieht sie auf den üblichen Hinweis in Büchern (und Filmen), dass jede Ähnlichkeit zu realen Personen, ob tot oder lebendig, rein zufällig sei. Aber in dem Roman „The Perfect Stranger“, den die preisgekrönte TV-Journalistin Catherine Ravenscroft (Cate Blanchett) ungefragt zugeschickt bekommt, steht eine abgewandelte Form: Jede Ähnlichkeit zu realen Personen sei NICHT rein zufällig!
Tatsächlich erkennt sich Catherine in dem Roman wieder – und sie kommt darin dermaßen schlecht weg, dass sie sich direkt übergeben muss. Geschrieben hat das Buch die schon vor neun Jahren verstorbene Nancy Brigstocke (Lesley Manville), die der festen Überzeugung war, dass Catherine die Schuld am Tod ihres Sohnes Jonathan (Louis Partridge) trägt. Dieser ist nämlich schon vor vielen Jahren bei einem Trip nach Italien ums Leben gekommen – und zwar kurz, nachdem er dort am Strand Catherine (als junge Mutter gespielt von Leila George) und ihren Sohn Nicholas kennengelernt hat.
Allerdings hat Nancy den Roman nie veröffentlicht. Das tut nun erst ihr Ehemann Stephen (Kevin Kline), nachdem er das Manuskript in einer verschlossenen Schublade im Zimmer seines toten Sohnes entdeckt hat – und damit ist sein perfider Rachefeldzug noch lange nicht am Ende...
Catherine Ravenscroft erhält für ihre Arbeit als TV-Journalistin gleich in der ersten Szene der ersten Folge einen Preis, wobei in der Laudatio auch die Frage nach der manipulativen Kraft von Geschichten eine zentrale Rolle spielt. Und das ist natürlich auch der Kern von „Disclaimer“: Hat Nancy damals tatsächlich aufgeschrieben, was ihrem Sohn passiert ist? Oder hat sie die Lücken so geschlossen, dass sie selbst irgendwie mit dem Verlust klarkommen kann, ohne die weiteren Folgen zu bedenken?
Kevin Kline begeistert jedenfalls als kauziger Racheengel, der sich auf seiner Mission die viel zu kleine rosafarbene Strickjacke seiner verstorbenen Frau überzieht. Jedes Mal, wenn wieder ein Punkt seines Plans aufgegangen ist, macht er beim Verlassen von Gebäuden die Geste, als würde er eine Handgranate hinter sich werfen – die diebische Freude eines kleinen Jungen. Auf der anderen Seite muss Catherine mit den Konsequenzen klarkommen, wenn ihre ganze Familie nach den Enthüllungen auf einen Schlag implodiert. Dabei fragt man sich nur so lange, ob den Part wirklich eine Schauspielerin von Cate Blanchetts Kaliber spielen muss, bis sie in der letzten Episode mit einem 20-minütigen Monolog über ihre Seite der Geschichte alle und alles an die Wand spielt.
Jede Perspektive hat ihren komplett eigenen Stil
Wie bei vielen modernen Mini-Serien, die einen einzelnen Roman verfilmen, kann man sich auch bei „Disclaimer“ die Frage stellen, ob es wirklich Not getan hat, die „nur“ 352 Seiten des Romans auf sieben Folgen auszudehnen. Aber das zentrale Mysterium, was damals in Italien wirklich geschehen ist, bleibt tatsächlich die ganze Zeit über spannend – und wirft dabei zugleich faszinierende Fragen über die verschiedenen Perspektiven auf ein und dasselbe Geschehen auf.
Und genau das spiegelt sich eben auch in der visuellen Gestaltung von „Disclaimer“ wider: Jede Figur hat nicht nur ihre eigene Farbpalette, sondern sogar ihren komplett eigenen Inszenierungsstil. So sind die Rückblicke nach Italien – trotz der tragischen bis schrecklichen Geschehnisse – in einem sonnendurchfluteten Licht wie in einem Postkartenpanorama eingefangen. Das sind einige der schönsten Aufnahmen des kompletten TV-Jahres, da kann so schnell eigentlich nichts drankommen. Und eine Ertrinken-Szene im Mittelmeer hat man selbst im Kino selten bis gar nicht derart spektakulär und bildgewaltig umgesetzt gesehen.
Visuell herausragend
Catherines Ehemann Robert, von Kult-Komiker Sacha Baron Cohen („Borat“) als ziemliches Arschloch porträtiert, bewegt sich im krassen Kontrast dazu in ausgeblichen-gräulichen Bildern durch London. Zudem streut Alfonso Cuarón in seine Passagen immer wieder extreme Zooms ein, die man so ähnlich vielleicht aus den Filmen von Regielegende Brian De Palma („Dressed To Kill“, „Blow Out“), aber ganz sicher nicht aus dem Fernsehen kennt.
Inhaltlich mag man sich über „Disclaimer“ streiten, aber visuell und inszenatorisch ist das Thriller-Melodram wirklich über jeden Zweifel erhaben. Da sieht man nicht nur am namhaften Cast, sondern auch an den Bildern, dass Apple TV+ nicht nur bei 200-Millionen-Blockbustern wie „Killers Of The Flower Moon“ oder „Napoleon“, sondern gerade auch bei seinen Serien erstaunliche Budgets bereitstellt.
Folge 1 und 2 sind ab sofort verfügbar. Die restlichen Episoden erscheinen wöchentlich immer montags (bis zur finalen siebten Folge am 15. November). Außerdem empfehlen wir euch das Interview mit Jay Hunt, das FILMSTARTS-Redakteur Markus Trutt vor einigen Wochen mit der Apple-Kreativchefin für Europa geführt hat – und in dem es unter anderem um die ersten deutschen Serien von Apple TV+ geht:
"So etwas gab es in Deutschland noch nie": So will Apple den Serienmarkt ordentlich aufmischenDies ist eine aktualisierte Wiederveröffentlichung eines bereits auf FILMSTARTS erschienenen Artikels anlässlich des heutigen Starts der Serie.
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