Wer kennt es nicht, das Gefühl, „im falschen Film” zu sein. Manchmal ist man gefühlt Statist*in oder Nebendarsteller*in der eigenen Storyline - von den diversen Rollen, die man in verschiedenen Lebensbereichen einnimmt, ganz zu schweigen. Solche Irritations- und Schmunzelmomente entstehen häufig auch, wenn wir Metafilme, also Filme mit mehreren Ebenen, ansehen - Woody Allens „The Purple Rose of Cairo” wäre hier als Beispiel zu nennen oder Fellinis Klassiker „Achteinhalb”.
Das Einbeziehen einer oder mehrerer Ebenen, z. B. eines „Films im Film” erlaubt eine (Selbst-)Reflexion des Mediums, untermauert den Film mit Ironie und doppeltem Boden. In ihrem Langfilmdebüt „The Ordinaries” treibt Sophie Linnenbaum dieses Spiel mit den Ebenen auf die Spitze: Die Figuren sind nicht nur Schauspieler*innen, die in einem Film mitwirken, sondern sie sind tatsächliche Filmfiguren - und sie sind sich dessen bewusst.
Ihr Leben verläuft filmisch, sie sind streng unterteilt in Haupt- und Nebenfiguren sowie Outtakes. Dabei folgen sie einer Storyline, Nebenfiguren müssen den Hauptfiguren weichen, wenn sie die Kulisse betreten, Outtakes werden geächtet und leben am Rande der Gesellschaft.
"The Ordinaries": Unser TV-Tipp des Tages
Die Idee ist dabei so schräg wie stimmig und am Ende einnehmend. Wenn ihr also noch auf der Suche nach einem besonderen Film seid, den ihr am Abend schauen könnt, habt ihr ihn genau jetzt gefunden: „The Ordinaries” läuft am heutigen 13. August 2024 um 23.15 Uhr im ZDF. Sogar jetzt schon könnt ihr den FSK-12-Titel kostenlos in der ZDFmediathek streamen.
Das Leben, ein Film: Darum geht's in "The Ordinaries"
Paula (Fine Sendel, „Wir Kinder vom Bahnhof Zoo”) besucht als Nebenfigur eine Hauptfigurenschule und träumt davon, eines Tages selbst eine Hauptfigur zu sein - mit Musik, großen Auftritten und allem Drum und Dran. Sie ist Klassenbeste im panisch Kreischen und beherrscht das Klippenhängen aus dem Effeff, nur ihre Emotionen und die dazugehörige Musik sind in Schräglage geraten.
Um an die ganz großen Gefühle heranzukommen, stellt sie Nachforschungen zu ihrem Vater an, der als Hauptfigur beim großen Massaker umkam. Doch dabei stößt sie auf Ungereimtheiten, die sie immer tiefer hineinführen in die Welt der abtrünnigen Outtakes und Filmfehler - bis sie beginnt, ihre eigene Storyline zu hinterfragen.
Die Idee, Filmfiguren in ihrer ganz eigenen (Film-)Welt agieren zu lassen, hatte Sophie Linnenbaum bereits einige Jahre zuvor mit ihrem Kurzfilm „[Out of Fra]me“, in dem ein Mann vor Einsamkeit aus dem Bild fällt und sich daraufhin einer Selbsthilfegruppe von Menschen mit Filmfehlern anschließt.
In „The Ordinaries” lässt Linnenbaum nun nicht nur reflexive filmische Ebenen, Filmtechniken und -begriffe aufeinanderprallen, sondern in ihrer Folge auch gesellschaftliche Systeme.
Es ist das „Wir” gegen „Die”, das „Oben” gegen das „Unten” - die perfekten, immer synchronen und glamourösen Hauptfiguren, die in der Hierarchie so weit über den flimmernden, schwarzweißen, stotternden oder fehlgeschnittenen Outtakes stehen.
Schade eigentlich, und beinahe inkonsequent, dass keine Outtakes auf der DVD zu finden sind. Dafür gibt’s im Bonusmaterial ein Making-of sowie Interviews - wer also mehr als nur den Film selbst sehen will, wird hier fündig:
Auf allen Ebenen durchdacht
Kostüm und Szenenbild (Sophie Peters; Josefine Lindnerund Max-Josef Schönborn) haben dazu noch grandiose Arbeit geleistet: Im Look orientiert der Film sich an den 50er und 60er Jahren, an einer Zeit, in der unter perfekt hergerichteten Oberflächen Diskriminierung und Ungleichheit brodelten. Optisch kracht die heitere, auf Hochglanz polierte Hauptfiguren-Welt auf die düstere, morbide Dystopie der Outtakes - und irgendwo dazwischen das „Institut” und die Wohnblöcke der Nebenfiguren, die nicht von ungefähr an sozialistische Bauten denken lassen.
So ist „The Ordinaries” viel mehr als nur ein heiterer Ritt für Filmfans: Verwoben in diesem Metaversum findet sich ein Plädoyer gegen Ausgrenzung, für Integration und Gleichwertigkeit. Dabei driftet der Film, trotz emotionalem großem Monolog am Ende, niemals in Pathos ab und belohnt mit vielen kleinen Filmzitat-Brotkrumen am Rande des Wegs (verraten sei hier nur eine einsame Bushaltestelle …).
Ich habe den für mich wichtigsten Film der Welt nach 20 Jahren im Kino wiedergesehen – das Erlebnis hat meine Erwartungen noch übertroffen*Bei dem Link zum Angebot von Amazon handelt es sich um einen sogenanntne Affiliate-Link. Bei einem Kauf über diesen Link erhalten wir eine Provision. Auf den Preis hat das keinerlei Auswirkung.
Dies ist eine aktualisierte Wiederveröffentlichung eines bereits auf FILMSTARTS erschienenen Artikels.