Ein guter Indikator dafür, ob man es im Bereich der Comedy geschafft hat, ist oft ein eigenes Special auf Netflix. Der schottische Komiker Richard Gadd kann zwar kein Stand-Up-Programm auf dem Streamingdienst vorweisen, aber dafür seit dem 11. April 2024 eine Mini-Serie namens „Rentierbaby“, die perfekt zu Netflix passt, da sie sich mit einem Thema befasst, das bereits große Erfolge für das Unternehmen gebracht hat: Stalking.
Ich war zunächst nicht besonders neugierig, habe aber kürzlich an einem ereignislosen Abend einfach auf Play geklickt und wurde positiv überrascht. „Rentierbaby“ ist anders als andere Stalking-Geschichten wie „You - Du wirst mich lieben“ oder „The Watcher“. Es ist kein Thriller, sondern eine Abhandlung über Obsession, Unsicherheit sowie den Missbrauch von Macht und Sexualität.
Darum geht‘s in "Rentierbaby"
Donny (Richard Gadd) träumt davon, Erfolg als Komiker zu haben, aber anstatt in großen Hallen aufzutreten, steht er höchstens mal auf kleinen Pub-Bühnen. Immerhin kennt er sich hier aus, da er sein Geld als Barmann verdient. Das bringt nicht viel ein, aber zumindest spart er Miete, indem ihn die Mutter seiner Ex-Freundin bei sich wohnen lässt. In seinem Leben läuft nicht alles besonders vorteilhaft, und Martha (Jessica Gunning) macht es nicht besser.
Schüchtern betritt diese eines Tages den Pub, bestellt aber nichts, weil sie pleite ist. Donny gibt ihr einen Tee aus. Er will nett sein, und sie akzeptiert seine Freundlichkeit. Sie kommt am nächsten Tag wieder und dann am nächsten und so weiter. Es scheint fast, als ob sie gute Freunde wären. Zwar gibt es einige Seltsamkeiten (sie behauptet, Anwältin zu sein, hat aber nie Geld), aber Donny will nicht unhöflich sein, bis Martha immer wieder Grenzen überschreitet und sogar anfängt, Freunde von Donny zu bedrohen.
Nach einigen Monaten geht Donny zur Polizei, aber dort muss er sich fragen: Warum zeigt er Martha erst jetzt an? Die Antwort liegt in einer Phase seines Lebens verborgen, die er eigentlich vergessen wollte, die sich jedoch unbarmherzig in seine Psyche gefressen hat. Donny muss sich dem stellen, was er jahrelang innerlich vergraben hat und sich selbst damit konfrontieren, dass er Marthas Obsession auch für sein eigenes Wohlbefinden ausgenutzt hat.
Inspiriert von wahren Ereignissen
Richard Gadd spielt nicht nur die Hauptfigur Donny Dunn, sondern war auch lange Zeit in einer ähnlichen Situation wie diese. In einem Ein-Mann-Bühnenstück hat er seine Erfahrungen bereits verarbeitet – und genau dieses Stück diente nun auch als Grundlage für die gefeierte und wirklich wichtige Netflix-Serie.
Diese Authentizität und die ungeschönte, dabei niemals effekthascherische Inszenierung tragen dazu bei, dass sich „Rentierbaby“ wahnsinnig echt anfühlt. Es wird nichts idealisiert. Während in anderen Filmen und Serien über Obsession oftmals schöne Menschen andere schöne Menschen beobachten, sind es hier ganz normale Leute wie du und ich. Menschen, denen man den Druck, dem sie ausgesetzt sind, ansieht.
Die Komplexität von "Rentierbaby" entfaltet sich
Nicht falsch verstehen: „Rentierbaby“ ist keineswegs eine dieser Geschichten, die uns glauben machen wollen, dass am Ende die Täterin das wahre Opfer ist. Aber sie verdeutlicht, dass Stalkerin Martha psychisch krank ist. Wer böse Dinge tut, muss nicht zwangsläufig böse sein.
Das klingt vielleicht wie eine Weisheit aus dem letzten Glückskeks, wird jedoch innerhalb der Mini-Serie nach und nach ausgebaut, ohne dabei jemals Donny als charakterlichen Fixpunkt aus den Augen zu verlieren. Der arme Kerl tut einem wirklich leid, aber er strebt nach Anerkennung, und da kommt es ihm gerade recht, wenn Martha ihn anhimmelt, auch wenn er sich romantisch gesehen nicht zu der angeblichen Juristin hingezogen fühlt.
Es gibt Momente innerhalb der Serie, in denen ich es regelrecht absurd fand, wie sehr Donny das übergriffige Verhalten von Martha toleriert. Mit der vierten Folge, wurde dann aber einiges klarer. Was hier enthüllt wird, veränderte meine Perspektive auf Donny, vor allem aber auf seine seelische Situation. Eine Sicht, die bereits zuvor von seiner Unsicherheit geprägt war.
Seine aufkeimende Beziehung zur transsexuellen Teri (Nava Mau) verspricht bereits in der zweiten Folge etwas Freude in Donnys Leben zu bringen. Doch er vermasselt es. Gut, dass er Martha als Grund für sein Versagen benennen kann. Die Wahrheit ist jedoch eine andere. Schon vor der Offenbarung dessen, was Donny in der Vergangenheit passiert ist, lässt sich immer wieder erkennen, dass er seelischen Ballast mit sich trägt.
"Rentierbaby" thematisiert die Folgen von Missbrauch
Die vierte Folge spielt einige Jahre vor dem Kennenlernen mit Martha. Donny beginnt gerade damit, sich als Komiker zu versuchen, was ihn zum renommierten Edinburgh Fringe Festival bringt, dem weltweit größten Kulturfestival, bei dem bereits einige bekannte Künstler*innen entdeckt wurden. Dort lernt er Darrien (Mark Lewis Jones) kennen, einen Mann, der ein Vorbild ist, jemanden, der es in der Branche geschafft hat und Donny verspricht, ihn zu unterstützen. Es kommt zu einem Missbrauch. Statt sich seinem Mentor danach zu entziehen, kehrt er aber immer wieder zurück. Wieso?
Die Antwort ist kompliziert. Es geht um die Auswirkungen von Missbrauch und auch um Furcht. Die Verantwortlichen hinter „Rentierbaby“ machen nicht den Fehler zu glauben, zu wissen, was Missbrauch alles auslösen kann. Das Trauma, das Donny davon trägt, ist so vielschichtig wie destruktiv. Es setzt Dynamiken frei, die nicht mit einer simplen Logik zu erklären oder gar aufzuhalten sind. Damit widersetzt sich die Serie klar einer Vereinfachung von Konfliktlösungen.
Das empfinde ich als durchaus mutig. Ein Mut, der sich nicht nur aus künstlerischer Sicht ausgezahlt hat. Seit dem Serienstart am 11. April eroberte „Rentierbaby“ recht zügig die Streamingcharts und eben auch das Interesse des Publikums, wie wir bereits in diesem Artikel festgehalten haben und darüber hinaus auf den wahren Kern eingegangen sind:
Neue Netflix-Serie erschüttert Zuschauer – die düstere wahre Geschichte von "Rentierbaby" hat der Hauptdarsteller selbst erlebt!Die Serie sensibilisiert und regt zum Diskurs an
„Rentierbaby“ ist eine Perle, die im Gegensatz zu vielen anderen Produktionen mit ähnlichem Inhalt auf eine durchdachte, eher entschlackte Erzählweise setzt. Diese wird gerne mit subtilen, komödiantischen Elementen unterstützt, die das Gesamtbild jedoch nie ins Lächerliche ziehen.
Die Tatsache, dass die Mini-Serie überraschend viel Aufmerksamkeit erhält, ist bemerkenswert, da sie einen guten Ausgangspunkt für einen Diskurs über unbequeme und stigmatisierte Themen bildet. Richard Gadd und die anderen Serienverantwortlichen sensibilisieren ihr Publikum auf einfühlsame Weise für psychische Belastungen und Erkrankungen, ohne dabei die Realität zu beschönigen. Dies ist im besten Sinne herausfordernd, aber niemals so extrem, dass es dämonisiert wirkt.
Die Serie schließt mit einer interessanten Erkenntnis: Warum nannte Martha Donny immer wieder ihr Rentierbaby? Die Antwort enthüllt ein letztes Mal, dass es sich innerhalb der Serie nicht nur um einen einsamen und schweigend leidenden Menschen handelt, sondern um zwei. Zwei Menschen, die sich gegenseitig angezogen haben, aber aus verschiedenen Gründen. Eine große Tragödie, die ohne großen Wirbel auskommt und dennoch lange nachwirkt.
Jessica Gunning in einem weiteren Serie-Highlight
Für diejenigen, die danach Lust haben, ihre Stimmung etwas aufzuhellen, sei die Comedyserie „The Outlaws“ empfohlen, in der die wunderbare Martha-Darstellerin Jessica Gunning an der Seite von Hollywood-Star und „Dune: Part Two“-Imperator Christopher Walken spielt. Die Serie ist derzeit bei Joyn und Amazon Prime Video verfügbar und bietet einen wohligen Kontrast zu „Rentierbaby“, einer Mini-Serie, die mir sehr oft das Gefühl gab, mich in vielen Aspekten wiederzuerkennen und auch ein wenig über meine eigenen seelischen Baustellen gelernt und erfahren zu haben.
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