Harry Potter ist als Titelheld wohl kaum aus dem gleichnamigen Franchise wegzudenken. Dabei bietet die Geschichte rund um Harry, Hermine und Ron noch so viele andere vielseitige und begabte Charaktere, die leider viel zu häufig übersehen werden. Ich denke, dass die Geschichte auch ohne ihn zu einem guten Ende gefunden hätte und dass es mehr als Mut und Verbissenheit braucht, um ein guter Anführer zu sein. Als Kind hätte ich dem vermutlich widersprochen, aber heute als Erwachsene denke ich darüber anders. Besonders zwei Figuren fallen mir ein, die ich mir heute eher als Schlüsselfigur wünschen würde als Harry.
Ich war eines dieser Kinder, die die Bücher von J.K. Rowling geradezu verschlungen haben und nicht abwarten konnten, das nächste in die Hände zu bekommen. Nachdem ich den ersten „Harry Potter“-Film mit Daniel Radcliffe im Kino sah, war ich hin und weg – und das lag nicht nur an meiner weirden Obsession für Draco Malfoy (Tom Felton), dessen Gesicht später meine Kinderzimmer-Wände zierte.
Es war vielmehr die Geschichte dieses schüchternen Jungen, der zu Größerem bestimmt war, der aus einer Welt, in der er viel Leid erfahren musste, aussteigen durfte, um in eine andere, fantastische Realität einzutauchen. Eine Realität, in der es magische Wesen gab und Hexen und Zauberer. Harry war einer der Guten, das stand für mich fest. Ich wollte unbedingt, dass er es schaffte!
Und das hat er auch. Aber nicht allein. Ohne seine besten Freund*innen Ron und Hermine (in den Filmen gespielt von Rupert Grint und Emma Watson) hätte er vermutlich nicht mal die Hälfte von dem erreicht, was er sich vorgenommen hat. Das kann man von einer einzelnen Person natürlich auch kaum erwarten. Aber mit dem Erwachsenwerden kamen immer mehr Dinge hinzu, die mich an Harry störten – und ich ertappe mich immer häufiger bei der Frage: Wen wünsche ich mir stattdessen als Helden oder Heldin der Geschichte?
Ist Harry zu egozentrisch?
Wenn ich heute 20 Jahre später in der S-Bahn sitze und den Hörbüchern lausche oder in gemütlicher Runde mit Freund*innen die Filme schaue, wirkt mein einstiger Held ganz anders auf mich. Das mag natürlich daran liegen, dass mir mein kindlicher Blick abhanden gekommen ist – aber auch mit etwas Nachsicht ist Harry nicht der Held, den ich mir für die Geschichte wünschen würde. Der Harry, den ich heute kennenlerne, ist egozentrisch, unnachgiebig und rachsüchtig. Die meisten seiner Erfolge basieren auf Glück oder der Hilfe anderer – und die Dankbarkeit, die er seinen Unterstützer*innen entgegenbringt, ist ziemlich überschaubar...
Mitgefühl ist bei ihm grundsätzlich vorhanden, nicht jedoch, wenn es sich um einen Slytherin handelt. Nicht nur, dass er jedes Mal, wenn etwas Schlechtes passiert, wahllos jemanden aus dem Hause Slytherin beschuldigt. Selbst nachdem Harry erfahren hat, wie grob Lucius Malfoy sein kann oder wie sehr Snape unter den Hänseleien von Harrys Vater gelitten hat, ändert sich seine Perspektive nicht: Weder weicht er davon ab, dass der Hass, der ihm von Draco und Snape entgegengebracht wird, nur mit Hass beantwortet werden kann, noch hinterfragt er die Ursache ihrer Abneigung.
Als Hermine sich im Buch für die Rechte der Hauselfen starkmacht, belächelt Harry ihr Vorhaben nur oder reagiert genervt. Und das, obwohl Dobby ihm immer ein treuer Freund war, der ihm aus so manch schwierigen Situationen geholfen hat. Obwohl er sieht, welch trauriges Dasein die meisten Hauselfen fristen müssen.
Und was zur Hölle hat er sich eigentlich dabei gedacht, als er sich gegen Draco mit einem ihm unbekannten Fluch verteidigt hat, der fast zum Tod seines Erzfeindes geführt hat? Es wirkt fast so, als hätte er Schwierigkeiten mit seiner Aggressionskontrolle. Und fast immer dreht sich alles nur um ihn.
Eine unterschätzte Heldin
Was ich Harry allerdings zugutehalte, ist seine Freundschaft zu Luna (Evanna Lynch). Zumindest im Film ist er ihr gegenüber nie verurteilend oder ablehnend. Er gibt nicht viel auf das Gerede, das sie umgibt, und er nimmt sich die Zeit, die es braucht, um sie wirklich kennenzulernen. Denn es gibt vieles, das man an ihr mögen kann, wenn man genau hinsieht.
Luna ist loyal, klug und verständnisvoll. Und als Ravenclaw liebt sie es, neue Dinge zu lernen und die Welt aus anderen Perspektiven zu betrachten. Selbst auf kleine Hänseleien reagiert sie nachsichtig und schlagfertig. Sie ist einer dieser Charaktere, die schon früh einen sehr starken eigenen Willen haben und keine Scheu davor, auch mal etwas Falsches zu sagen. Sie ist immer zu hundert Prozent sie selbst, aber ihre Unangepasstheit führt keineswegs dazu, dass sie andere verurteilt – im Gegenteil. Luna kommuniziert klar, was sie denkt, und begegnet jedem Lebewesen mit demselben Respekt und Mitgefühl.
Die Tatsache, dass eine so scheue unsterbliche Seele wie Helena Ravenclaw sich ihr anvertraut, beweist ganz klar, dass Luna jemand ist, auf den man sich verlassen kann. Oder denken wir an den Moment, als sie mit Harry über Trauer und Verlust spricht, nachdem Sirius im Zaubereiministerium getötet worden ist. Sie erzählt ihre persönliche Geschichte zu einem Zeitpunkt, an dem Harry sie wirklich hören muss. Und selbst als sie von Bellatrix Lestrange als Geisel gehalten wird, verliert sie nicht den Kopf und beweist Nerven aus Stahl. Ihr Mut, ihre Intelligenz und ihre Weitsicht würden aus ihr eine hervorragende Heldin machen!
Der (fast) Auserwählte
Ähnlich verhält es sich mit einer weiteren unterschätzten und häufig übersehenen Figur. Neville Longbottom (gespielt von Matthew Lewis) ist ein gutes Beispiel dafür, dass man der Welt trotz tragischer Vergangenheit vorurteilsfrei begegnen kann. Natürlich ist er nicht bei einer Tante und einem Onkel aufgewachsen, die ihn ständig schikanierten, aber seine Großmutter ist zumindest in den Büchern nicht sehr duldsam mit ihm und bisweilen eine eher unangenehme Zeitgenossin.
Seine Eltern wiederum wurden von Todessern in den Wahnsinn getrieben und müssen deshalb für immer in einer Anstalt leben. Wenn er sie besucht, wäre es nachvollziehbar, wenn sich bei Neville ein Rachegefühl gegen jene einschleicht, die ihnen das angetan haben. Aber es scheint fast so, als wäre er klug genug, diesem Impuls nicht nachzugeben und sich stattdessen auf das zu konzentrieren, was er kontrollieren kann, nämlich sein Leben und seine Zukunft. Auch was die ständige Schikane durch Draco Malfoy angeht, bietet sich ein Vergleich zu Harry an. Denn auch Neville ist ein beliebtes Ziel von Dracos Wut. Und trotzdem entwickelt er keinen blinden Hass.
"Ich hasse es": In diesem "Harry Potter"-Film kann Daniel Radcliffe sein eigenes Schauspiel überhaupt nicht ausstehenUnd welche Entwicklung er im Laufe der Geschichte durchmacht! Vom jungen, nervösen Erstklässler, der Harry Potter daran hindern will, in Hogwarts herumzuschleichen, wird er zum Helden, der in der Schlacht von Hogwarts einen von Lord Voldemorts wertvollsten Horkruxen zerstört. Vergessen wir außerdem nicht, wie mutig er handelt, wenn er sich direkt an Voldemort wendet, um ihm zu sagen, wem seine Loyalität gilt, obwohl er Harry für tot hält.
Klar ist Neville hier und da ein wenig vergesslich. Aber ganz ehrlich: Verpeiltheit ist mir definitiv lieber als unreflektierter Hass und impulsive Aggression. Seine Art, sich selbst zu reflektieren und stets über seine Komfortzone hinaus weiterzuentwickeln, machen ihn für mich zu einem wahren Anführer.
Hätte ich jetzt also die Möglichkeit, die Geschichte mit neuen Helden zu bestücken, wären es wohl Luna und Neville. Und während ich hier sitze und über ihre gemeinsamen Abenteuer nachdenke, werde ich neugierig. Vielleicht habe ich ja Glück und stoße in den Untiefen des Internets auf eine entsprechende Fan-Fiction!
Ich sehe "Herr der Ringe" mit völlig anderen Augen, seit ich selbst einen Ring in den Schicksalsberg geworfen habe*Bei dem Link zum Angebot von Amazon handelt es sich um einen sogenannten Affiliate-Link. Bei einem Kauf über diesen Link erhalten wir eine Provision.