In Quentin Tarantinos „Inglourious Basterds“ schlüpfte Brad Pitt (aktuell mit „Babylon - Rausch der Ekstase“ im Kino zu sehen) in die ikonische Rolle des Lieutenant Aldo Raine, der von jedem einzelnen Mitglied seiner jüdischen Kampftruppe eine Sache forderte: 100 Nazi-Skalps! Damit bezog sich der Charakter auf seine indigenen Vorfahren, die mit den Leichen ihrer Feinde auf dieselbe Art und Weise umgingen. Aber Brad Pitt und Skalps gibt es nicht nur in „Inglourious Basterds“.
In „Legenden der Leidenschaft“ von Edward Zwick („The Last Samurai“) gibt jedoch nicht Brad Pitt den Auftrag, die Gegner zu skalpieren. Stattdessen ist er als Tristan Ludlow hier im Ersten Weltkrieg unterwegs – und übernimmt das grausame Handwerk selbst! Passend dazu: Auch in „Legenden der Leidenschaft“ gibt es einen indigenen Kontext, denn sozialisiert wurde Brad Pitts Figur unter anderem von einem amerikanischen Ureinwohner namens Ein-Stich (Gordon Tootoosis). Aber damit nimmt das Epos aus dem Jahre 1994, welches nur noch bis einschließlich 30. November auf Netlfix zur Verfügung steht, erst richtig Fahrt auf...
Darum geht's in "Legenden der Leidenschaft"
Colonel William Ludlow (Anthony Hopkins) und seine drei Söhne Samuel (Thomas Henry), Tristan (Brad Pitt) und Alfred (Aidan Quinn) leben zu Beginn des 20. Jahrhunderts in den Rocky Mountains. Kurz vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges wird das Verhältnis der drei Brüder auf eine harte Probe gestellt: Alfred verliebt sich in Susannah (Julia Ormond), die Verlobte von Samuel, die wiederum Gefühle für Tristan hat. Als die Brüder sich gegen den Willen ihres Vaters dazu entschließen, an die Front zu ziehen, droht der Familienbund zu zerbrechen.
Während Samuel der blutige Konflikt im Ersten Weltkrieg das Leben kostet, erliegt Tristan voll und ganz seinen Schuldgefühlen für den Tod seines Bruders und verschwindet für einige Jahre von der Bildfläche. Als er schließlich als gerissener Pferdehändler und Alkoholschmuggler auf die väterliche Farm zurückkehrt, ist Alfred mit Susannah verheiratet und als Kongressabgeordneter in der Politik tätig. Die Beziehung der Brüder wird auf eine Zerreißprobe gestellt und sie werden nach und zu Rivalen – auch im Kampf ums Susannahs Liebe.
Ein überwältigendes Epos
Was in den 1990er-Jahren noch gang und gäbe war, wird heutzutage – und das klingt nun etwas absurd – ausgerechnet von James Cameron noch betrieben: klassisches Erzählkino. Ja, „Avatar - Aufbruch nach Pandora“ und „Avatar: The Way Of Water“ funktionieren auch als ausladende Leinwand-Epen, die auf große Gefühle und noch größere Bilder setzen. Kein Wunder, dass „Avatar“ auch immer vorgeworfen wird, dass James Cameron sich hier reichhaltig bei Kevin Costners „Der mit dem Wolf tanzt“ bedient hat – dem vielleicht eindrucksvollsten Vertreter des Erzählkinos der 1990er-Jahre.
Auch „Legenden der Leidenschaft“ stößt in dieses Horn und erzählt aus verschiedenen Perspektiven und über mehrere Jahrzehnte hinweg von einer Familie, deren Leben von Liebe und Tod dominiert ist. Edward Zwick geht es bei seinem im besten Sinne altmodischen Heimatfilm nicht um die geschichtliche Akkuratesse, die die historische Kulisse auf den ersten Blick verlangen könnte. Stattdessen ist der Regisseur unentwegt daran interessiert, das Publikum durch Bilder und Emotionen zu überwältigen. Und da wären wir wieder beim Thema.
"Es war brutal": So wurde Brad Pitt von George Clooney und Matt Damon um den Schlaf gebrachtEdward Zwick, der ohnehin ein Händchen für großes, prächtig bebildertes Kino besitzt, nimmt die Zuschauer*innen in aller erzählerischen wie inszenatorischen Besonnenheit an die Hand und führt sie durch diese zusehends an Herzschmerz gewinnende Geschichte, die in Sachen romantischer Leidensfähigkeit einiges von seinem Publikum abverlangt – denn Brad Pitt und Julia Ormond, die sich nacheinander verzehren, aber einfach nicht miteinander können, sind ein absolutes, in ihrer gleichermaßen animalischen wie sanftmütigen Leidenschaft zutiefst bewegendes Traumpaar.
Wer sich also noch einmal in eine Zeit zurückversetzen lassen möchte, in der das Geschichtenerzählen die größte Priorität besaß, der sollte sich „Legenden der Leidenschaft“ unbedingt anschauen. Wie in eine weiche Wolldecke gehüllt, entführt Regisseur Edward Zwick in ein von Emotionen überquellendes Epos, das berührt und beeindruckt. Die Aufnahmen einer unbändigen amerikanischen Landschaft sind dazu eine Augenweide (und völlig verdient wurde die Kameraarbeit von John Toll mit einem Oscar ausgezeichnet). Und wenn Brad Pitt im prasselnden Regen mit schmachtendem Blick den Zuschauer*innen geradewegs in die Augen schaut, hat man sein Herz ohnehin schon an den Film verloren.
Dies ist eine Wiederveröffentlichung eines bereits auf FILMSTARTS erschienenen Artikels.