Am 15. November 2023 startet auf Disney+ mit „Deutsches Haus“ eine der wichtigsten Serien des Jahres. Die Serie basiert auf dem gleichnamigen Roman von Annette Hess, die auch als Autorin und Showrunnerin an der Streaming-Adaption beteiligt ist und erzählt die Geschichte der Frankfurter Auschwitzprozesse. In diesen wurden die menschenverachtenden Verbrechen im Konzentrationslager Auschwitz verhandelt, wobei sich insbesondere der erste Prozess (1963 bis 1965) als besonders langwieriges Unterfangen und zähes Ringen um die Wahrheit erwies.
Dieser Prozess bildet die Grundlage für die Disney+-Serie, die mit Anke Engelke, Max von der Groeben, Iris Berben, Katharina Stark, Henry Hübchen und Heiner Lauterbach ausgesprochen hochkarätig besetzt ist. FILMSTARTS-Redakteur Stefan Geisler hatte die Gelegenheit, mit Annette Hess über die Produktion von „Deutsches Haus“, Dackel am Set, Unschuld im Schatten von Auschwitz und den wieder erstarkenden gesellschaftlichen Antisemitismus zu sprechen.
FILMSTARTS: Wie nähert man sich als Autorin einem solch schweren Thema an?
Annette Hess: Als ich zehn Jahre alt war, habe ich zum ersten Mal über den Hollywood-Film „Das Urteil von Nürnberg“ vom Holocaust erfahren. Ich wusste davon vorher nichts und war vollkommen schockiert und habe seitdem immer wieder versucht, das Thema in meinen Filmen zu behandeln. Ich kann nur Sachen erzählen, die nach 1960 passiert sind, da ich selbst erst 67 geboren worden bin und zu dieser Zeit und dieser besonderen Atmosphäre noch einen Bezug habe.
2013 habe ich dann zufällig die Tonbandaufnahmen von diesem Prozess im Internet entdeckt. Das sind 400 Stunden, die ich rauf und runter gehört habe. Ich dachte vorher, ich weiß alles über Auschwitz, aber wenn man das hört, wird einem klar, dass man das ganze Ausmaß nicht begreifen kann.
In diesem Prozess gab es eine polnische Übersetzerin. Die hat mich wahnsinnig beeindruckt, weil sie immer so ruhig geblieben ist und dadurch den Zeug*innen auch so ein Vertrauen gegeben hat zu sprechen. Und so ist die Idee geboren, dass ich einen Roman über den Prozess schreiben will. Bei der Suche nach einer Hauptfigur bin ich dann auf diese Dolmetscherin zurückgekommen, aber wollte gleichzeitig auch die Geschichte einer deutschen Familie erzählen, die in diesen Prozess verstrickt ist.
Und dann fängt man an zu recherchieren über die Zeit. Ich gucke mir dann zum Beispiel Speisekarten aus der Zeit an, um wirklich ein sinnliches Gefühl zu kriegen. Was haben die Leute gegessen? Welche Musik haben sie gehört und was für Filme geschaut? „Winnetou“ war da gerade im Kino und die „Sissi“-Filme sehr beliebt. Gleichzeitig muss man auch sehr präzise an diesem wahren Prozess entlang erzählen.
FILMSTARTS: Was ist die größte Schwierigkeit bei der Umformung des eigenen Romans in ein Drehbuch?
Annette Hess: Da gab es eigentlich keine größeren Schwierigkeiten. Wenn man den Roman liest, dann merkt man, dass der bereits sehr filmisch geschrieben ist. Natürlich musste ich mich dennoch von einigen Dingen verabschieden. Am traurigsten war für mich, dass ich mich von dem Purzel, dem Dackel der Familie Bruns, trennen musste. Den hatte ich sogar in die Drehbücher reingeschrieben, aber beim Schreiben schon immer gedacht, dass Dackel ja eigentlich die am schlechtesten erziehbaren Hunde der Welt sind.
Wir haben in Polen gedreht und hatten einen Drehtag mit dem Dackel. Der sollte auch gar nichts Tolles machen, nur sitzen. Aber der hat einfach nichts gemacht. Und dann musste ich ihn wieder rauschreiben – leider hatte er keine kleine Rolle, denn er wurde von der Familie immer wieder angesprochen.
FILMSTARTS: Sie gehören zu den Gründungsmitgliedern von „Der Kontrakt 18“ (eine Selbstverpflichtung von über 200 Drehbuchautor*innen, nur noch an Projekten mitzuwirken, bei denen sie kreative Kontrolle bzw. ein Mitspracherecht bei der Regie erhalten) – wie gestaltete sich die kreative Kontrolle im Fall von „Deutsches Haus“ ganz konkret. Sie sind zwar auch die Showrunnerin, dennoch lassen natürlich die Regisseure ihre Ideen zu Bildern werden.
Annette Hess: Ich war vertraglich in jedem kreativen Bereich im Lead. Ich musste also alles abnehmen und an alles einen Haken machen. Und es war auch ganz gut, dass ich im Falle einer Unklarheit oder Auseinandersetzung sagen konnte: „Ne, wir machen das jetzt so“. Aber natürlich ist das ein großes Gemeinschaftswerk. Wir haben mit der Regie und den beiden Kameramännern lange zusammen über den Bildern gesessen und uns auch gegenseitig immer korrigiert. Das ist bei so einem schweren Stoff natürlich super. Bei der Begehung des Lagers Auschwitz haben wir beispielsweise am meisten drüber gesprochen, wie wir das umsetzen und was wir für Bilder finden können. Sie hätten uns auch die Ruinen der Gaskammern nachgebaut, das haben wir aber abgelehnt, da das dann doch zu weit gegangen wäre.
FILMSTARTS: Überlebensschuld-Syndrom, Erbschuld, Sie konfrontieren ihr Publikum mit ungewohnt komplexen Sachverhalten und bieten diesen sogar Platz zur Entfaltung, ohne zu vielen der aufgemachten Fragen eine eindeutige Antwort zu liefern. Hatten sie Angst, dass die ihr Publikum teilweise überfordern könnte?
Annette Hess: Nein, ich finde, das Publikum ist prinzipiell eher unterfordert. Und meine Erzählungen sind ja auch im Kern immer einfache Geschichten. Wenn man so will, ist ja Evas Geschichte auch eine Coming-of-Age-Story. Eva lehnt sich gegen ihren Verlobten und gegen ihre Familie auf. Sie wird erwachsen durch diesen Prozess und ich glaube, diese Auseinandersetzung, die sie mit ihrer Familie hat, die kennt jeder. In jeder Familie gibt es Geheimnisse, die nicht ausgesprochen werden. Soll sie mit ihren Eltern brechen, aufgrund der Dinge, die sie erfahren hat? Das sind existenzielle Fragen, die sich jeder Mensch stellt. Hatten Sie das Gefühl, dass das Publikum überfordert werden könnte?
FILMSTARTS: Es ist natürlich wahnsinnig spannend, weil das Publikum mit solchen Stoffen bisher vielleicht gar nicht unbedingt in Berührung gekommen ist. Wer hat „Nacht und Nebel“ gesehen oder „Shoah“ von Claude Lanzmann? Für mich ist die Serie ein guter Mittelweg zwischen den ganz schweren und den Einstiegsstoffen in das Thema.
Annette Hess: Das ist ja die Anlage von Eva. Sie ist wie ein Kind, das zum ersten Mal von Auschwitz erfährt. Es ist, als ob man das jemandem erzählt. Und diese naive Herangehensweise, die hilft. Man wird nicht gleich überfahren mit den Informationen und der Tragweite dieser Tat. Das war eine unserer schwierigsten Aufgaben: Dem Ausmaß des Holocausts überhaupt irgendwie gerecht zu werden und es gleichzeitig auch erträglich zu halten. Deshalb gibt es die Szenen im Bunker, dem Nachtklub und die Tanz-Szenen oder die Geschichte um Sissi und David. Wir haben versucht, alle Farben dieser Zeit einzufangen und natürlich spiegelt die Serie auch ein bestimmtes Sittenbild wieder. Aber natürlich ist jeder von den vergangenen Ereignissen betroffen.
FILMSTARTS: … und im Endeffekt ist der Klub ja auch nur ein Ventil für die jüngere Generation, die noch immer komplett im Schatten von Auschwitz gefangen ist.
Annette Hess: Ja, wie die Musik, die Stones oder der Punk, der ja letztlich auch ein Aufschrei war. In der Musik bildet sich das immer ganz gut ab.
FILMSTARTS: Was Sie wunderbar in der Serie darstellen, ist die Verknüpfung zwischen dem Privaten und dem Politischen. Glauben Sie, dass das Private jemals unpolitisch sein kann?
Annette Hess: Nein, niemals. Es gibt ja diese Bezeichnung der Mitläufer. Mitläufer und Mittäter, das liegt so nah beieinander und ist manchmal sogar eins. Leute, die schweigen, verhalten sich politisch. Das sieht man ja jetzt an diesem Aufschrei, der durch die jüdische Gemeinde geht. Ich habe einen treffenden Ausspruch gelesen, dass alle diese Leute, die sich immer gefragt haben, wie sie sich 1933 verhalten hätten, das genau jetzt an sich ablesen können.
FILMSTARTS: Das ist natürlich ein extrem schwieriges Gedankenspiel, bei dem heutzutage gern von einem moralisch hohen Ross argumentiert wird. Sie haben das in ihrer Serie gut mit der Aussage der Familie Bruhns heruntergebrochen, die sagen: „Wir waren keine Helden“. Eine Unschuld im Schatten von Auschwitz kann es nicht geben und dennoch gibt es da Graustufen.
Annette Hess: Was ich so wahnsinnig wichtig finde – und man hat es doch eigentlich schon so oft gehört – ist dieses „Wehret den Anfängen“! Jetzt geht es ja noch, aber in dem Moment, wo die Gestapo mit brennenden Fackeln durch die Straßen marschiert und dir in die Fresse haut, wenn du was sagst, da traut sich kaum noch einer, den Mund aufzumachen. Da würde ich mich auch nicht mehr trauen, etwas zu sagen. Aber jetzt geht es noch. Wir sind über die Anfänge fast schon hinaus und befinden uns gerade an einer entscheidenden Schwelle – und über diese Schwelle sind die Menschen 1933 drüber hinaus.
FILMSTARTS: Eine der spannendsten Figuren für mich persönlich ist Heiner Lauterbachs Wilhelm Boger, weil der vom überzeugten Nazitäter plötzlich zum Verfechter einer sich wandelnden Ordnung wird. Er erkennt, dass sich die Zeit geändert hat. Ist er nicht im Endeffekt der Schlimmste von allen, weil er einfach der absolute Mitläufer ist, der jede politische Strömung mitmachen würde, wenn es die Umwelt erfordert?
Annette Hess: Er dreht sein Fähnchen immer so, wie der Wind gerade steht. Diese Leute, die keine Haltung haben und sich einfach nicht greifen lassen, sind gefährlich – was nicht heißt, dass man nicht auch offen für andere Meinungen sein beziehungsweise seine Meinung ändern darf. In irgendeiner anderen Kritik stand, dass die Geschichte um Wilhelm Boger etwas konstruiert wäre, aber die Erzählung ist wahr. Der war ohne Moral, hatte mehrere uneheliche Kinder zu versorgen und seine Tochter hatte etwas mit einem Ausländer angefangen und ist schwanger von ihm geworden.
FILMSTARTS: Das Konzept des Schweigens erfüllt in dieser Serie eine besondere Funktion. Die Figuren schweigen sich an, verschweigen etwas voreinander – Dinge bleiben stets unausgesprochen, unerzählt und die Schweigeminute gehört zu den eindrucksvollsten Szenen in der Serie. Glauben Sie, dass die Idee von erzählerischen Leerstellen eine in der deutschen Film- und Serienlandschaft unterschätzte Form des Geschichtenerzählens ist?
Annette Hess: Noch viel interessanter finde ich, dass so wahnsinnig wenig gelogen wird. Das ist so ein Thema, mit dem ich mich schon öfter beschäftigt habe, also dass Figuren einfach Sachen erzählen, die nicht stimmen. Das gibt es sehr wenig.
FILMSTARTS: Ich glaube, da sind wir wieder ein bisschen bei der Unterforderung des Publikums. Man scheint zu glauben, dass die Zuschauer und Zuschauerinnen nicht mehr mitkommen, wenn nicht alles klar gesagt wird.
Annette Hess: Dabei ist doch genau das Gegenteil der Fall. Für das Publikum können doch die besten Momente in Serien oder Filmen jene Momente sein, in denen sie etwas verstehen, was nicht ausgesprochen wird. Mein Ideal ist es ja, dass man hinterher noch über meine Sachen redet – auch weil Fragen offen bleiben. In der Serie beispielsweise in der Figur der Annegret zu finden. Eigentlich müsste sie ja für ihre Taten belangt werden. Und Zuschauer*innen können verschiedener Meinungen über ihre Beweggründe sein. Und dann natürlich auch diese moralischen Fragen. Wo fängt denn Schuld eigentlich an? Wie Sie schon gesagt haben – sind die Eltern schuldig, weil sie als Familie endlich glücklich zusammenleben wollten? Was man ja auch nachvollziehen kann.
FILMSTARTS: Sie verzichten in der Serie auf fiktionalisierte Rückblenden, diese fußen auf Erinnerungen oder Schilderungen. Außer in der vierten Folge. Dort sehen wir kurz die Einblendung des jungen KZ-Insassen Andreas Rapaport. Die Geschichte dieses Gefangenen wurde in den Prozessen von Josef Glück wiedergegeben: „Er war in der 11. Baracke. Er hat mit Blut geschrieben: Andreas Rapaport, gelebt 16 Jahre.“ Warum haben Sie gerade ihm ein Gesicht gegeben?
Annette Hess: Die Figur der Rachel Cohn ist eine Kunstfigur, die zwei Zeugen in sich vereint: Mauritius Berner, der mit seinen Zwillingen an der Rampe ankommt und eben Josef Glück, der von Andreas Rapaport erzählt. Und diese Erzählung von Josef Glück hat mich auf den Tonbändern jedes Mal unglaublich berührt, wenn er von diesem 16-Jährigen erzählt hat, der nach zwei Tagen wusste, dass da Vergasungen stattfinden. Wir haben lange darüber gesprochen, ob wir ihn zeigen wollen. Ich hatte aber das Gefühl, dass ich gerne diesen einen Repräsentanten für die Opfer hätte, der direkt in die Kamera schaut. Ich wollte den Opfern ein Gesicht geben.
Wir haben dann lange an dieser Szene gearbeitet. Ich habe wohl 30 Mal diese Sequenz im Drehbuch geändert. Wir hatten auch überlegt, ob wir die Opfer anders darstellen. Es gibt Fotos von Deportierten, die vor den Gaskammern warten, ahnungslos. Wir hatten sogar die Rechte der Bilder angefragt und hätten die verwenden können und es war auch mal angedacht, diese an der Stelle einfach zu zeigen, doch irgendwie hat sich das nicht richtig angefühlt. Wie ein Missbrauch von diesen Menschen, die sich ja gar nicht mehr dazu äußern können. Deshalb haben wir das wieder rausgenommen.
FILMSTARTS: Wie stehen Sie zur fiktionalisierten Arbeiten zu diesem Thema? „Jojo Rabbit“ beispielsweise?
Annette Hess: Den habe ich gar nicht gesehen. Ich gucke solche Filme nicht so gern. Aus Selbstschutz, weil ich mich über viele Dinge dann auch aufrege. Allein die Tatsache, dass wir an unserer Szene so lange rumüberlegt haben, wie wir den Opfern ein Gesicht geben, zeigt doch, dass man eigentlich keine Bilder dafür finden kann. Ich habe zwischendurch dann sogar vorgeschlagen, dass wir einfach nur schwarz zeigen. Aber das hätte sich künstlerisch gedoppelt mit der Schweigeminute. Und deshalb ist es jetzt dieses eine Gesicht, das wir mit einem konkreten Namen verbunden haben.
FILMSTARTS: Noch eine Frage zum Abschluss. In Anbetracht des aktuell aufkeimenden Antisemitismus, mit dem wir gesellschaftlich wieder zu kämpfen haben: Glauben Sie, dass die Welt dazu verdammt ist, ähnliche Fehler immer wieder und wieder zu begehen?
Annette Hess: Ja. Wir sind wieder im Mittelalter angekommen. Wie grausam Menschen andere Personen ermorden und das passiert gleichzeitig, während wir hier sprechen. Es gibt ja ganz viele Regressionen, was das Konservative angeht oder auch Abtreibungsgesetze. Man kann sich nur noch im Kleinen freuen. Ich habe mich beispielsweise wahnsinnig über die Wahl in Polen gefreut und hoffe, dass es dort wieder in eine progressivere Richtung geht.
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