Wenn man so viele starke Filme verantwortet hat wie Martin Scorsese, gehen manche Projekte wohl zwangsweise unter. Eines der lange Zeit ungenügend beachteten Kleinode im Schaffen des Meisterregisseurs hinter Filmen wie „GoodFellas“, „Taxi Driver“ und „The Wolf Of Wall Street“ ist „Die Zeit nach Mitternacht“. Mit dem pechschwarzen Komödienthriller ackerte sich Scorsese einst aus einer Sinnkrise – und wurde in Cannes prompt mit der Trophäe für die beste Regie prämiert.
Dennoch geriet der Film zunächst in Vergessenheit – jedoch wurde er in jüngeren Jahren als unterschätzter Geniestreich wiederentdeckt und ist nunmehr ein gefeierter Kultklassiker. Diese Woche feierte „Die Zeit nach Mitternacht“ endlich seine deutsche Blu-ray-Premiere.
Der Blu-ray-Edition liegt der im Original „After Hours“ betitelte Film außerdem auf DVD bei. Als Extra enthalten die Discs darüber hinaus die etwa 20-minütige, sehenswerte Dokumentation „Filming For Your Life“. Ungeduldige, die auf Bonusmaterial verzichten können, finden „Die Zeit nach Mitternacht“ schon jetzt als Kauf- und Leih-VOD bei Amazon Prime Video*.
"Die Zeit nach Mitternacht": Eine irrwitzige Albtraum-Nacht
Programmierer Paul Hackett (Griffin Dunne) ist gelangweilt. Als er aber in einem New Yorker Café zufällig der freundlichen Marcy (Rosanna Arquette) begegnet, glaubt er, endlich wieder ein Leben voller Glück, Aufregung und Erregung führen zu können. Nun ja, zumindest Aufregung und Erregung stehen tatsächlich auf dem Plan – wenn auch anders, als gedacht:
Ein romantisches Stelldichein in Marcys WG nimmt eine einschüchternde Wende, woraufhin Paul sich kommentarlos aus dem Staub macht. Bald darauf geschieht Schreckliches mit Marcy – und Paul wird in einen irrwitzigen Strudel aus Schuldgefühlen, falschen Anschuldigungen und Paranoia gezogen. Und schon hat es ein ganzer Lynchmob auf ihn abgesehen...
So kennt ihr den "Wolf Of Wall Street"-Regisseur nicht: Martin Scorseses wohl persönlichster Film erscheint neu im Heimkino„Die Zeit nach Mitternacht“ ist ungefähr das, was man bekommt, wenn man in einer einsamen Nacht „Der Zauberer von Oz“, Homers „Odyssee“ und Dantes „Göttliche Komödie“ mit dem Big Apple in einen Mixer packt, kräftig auf „Pürieren“ drückt und dann einen Nervenzusammenbruch hat:
Kaum verlässt Paul seinen monotonen Alltag, um Schürzenjäger zu spielen, betritt er eine überhöhte, misstrauische Parallel-/Unterwelt voller verzerrter Großstadt-Archetypen. Die trachten ihm entweder grundlos nach dem Leben oder schüchtern ihn unprovoziert dermaßen ein, dass er sich zum Hampelmann macht. Manchmal sogar, paradoxerweise, beides zugleich!
Scorsese erzeugt in seiner kleinen, kernig-knackigen Thrillerkomödie ein unbeschreibliches Gefühl der Beklemmung: Gemeinsam mit Kameramann Michael Ballhaus („Gangs Of New York“) zeigt er New Yorks nächtlichen SoHo-Bezirk kühl, leergefegt und ebenso faszinierend-stylisch wie einschüchternd. Die Abfolge an plausiblen, skurrilen und nahezu unmöglichen, aber glaubhaft verkauften Ereignissen entwickelt in dieser Ästhetik und dank Thelma Schoonmakers vortrefflicher Schnittarbeit eine soghafte Wirkung.
Zudem positioniert Dunne seinen makelbehafteten Versager, der abwechselnd zu sehr mit seinem Glied oder mit seinem Fluchtimpuls denkt, perfekt auf der Trennlinie zwischen abscheulich und mitleiderregend. So können wir mal mit ihm fühlen, erinnern uns an eigene unbequeme Momente, wenn wir irgendwo gestrandet waren oder partout missverstanden wurden. Andere Male ist es zu köstlich, über seine Fehltritte zu lachen – bis das Lachen im Halse stecken bleibt, weil der süffisant-pechschwarze Humor in eine genial-bittere Note übergeht.
Scorseses Ängste werden zur Komödie
Dass „Die Zeit nach Mitternacht“ so eine komplex-effektive Stimmung erzeugt, dürfte daran liegen, wie viel Herzblut Scorsese in ihn gesteckt hat: Obwohl er zuvor solche Bretter wie „Taxi Driver“ und „Wie ein wilder Stier“ ablieferte, geriet er in eine Karrieresackgasse. Die wandelnden Prioritäten der Hollywood-Studios führten dazu, dass es für ihn unmöglich wurde, Passionsprojekte anzuschieben, was sich dramatisch auf sein Selbstwertgefühl auswirkte.
Ursprünglich sollte „Die Zeit nach Mitternacht“ von Tim Burton inszeniert werden, doch als Scorsese Joseph Minions Drehbuch in die Hände fiel, erkannte er sich im missverstandenen, förmlich um sein Leben zappelnden Protagonisten wieder. Deshalb bat er darum, das Projekt übernehmen zu dürfen. Burton dankte verständnisvoll ab, und Scorsese nutzte „Die Zeit nach Mitternacht“ als Gelegenheit, zu beweisen, dass er günstig und innerhalb eines straffen Zeitplans starke Arbeit abliefern kann.
Somit wurde „Die Zeit nach Mitternacht“ zu einem taktischen Karriereschachzug, der dem Meisterregisseur zugleich ein Ventil für seine dunkleren Gedanken bot – nicht umsonst ist das Making of „Filming For Your Life“ betitelt. Mit einem Einspielergebnis von etwas weniger als elf Millionen Dollar (bei einem Budget von 4,5 Millionen Dollar) blieb der ersehnte kommerzielle Befreiungsschlag allerdings vorerst aus. Der erfolgte für Scorseses erst ein Jahr später – mit dem Hit-Drama „Die Farbe des Geldes“ von 1986.
Jedoch erhielt Scorsese durch sehr positive Presseresonanz und die Auszeichnung in Cannes die erhoffte qualitative Bestätigung. Dass „Die Zeit nach Mitternacht“ nach einer Phase, während der er als obskure Fußnote in Scorseses Schaffen galt, nun zum Kultfavoriten aufsteigt, ist das sprichwörtliche Tüpfelchen auf dem i – und wohlverdient!
Denn selten wurde die desorientierende, dornige Magie einer total entgleisenden Nacht so perfekt eingefangen. Und als Strudel aus Running Gags, mühselig eingefädelten, bitterbösen Schenkelklopfern und Verfolgungsängsten ist „Die Zeit nach Mitternacht“ nicht nur ein Paradebeispiel für Scorseses fies-genialen Humor. Sondern auch perfekt zum immer wieder neu Anschauen. Denn die trocken-komische Brillanz dieses vor zwiespältiger Großstadtatmosphäre triefenden Kult-Geniestreichs wird mit jedem Mal deutlicher.
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Dies ist eine überarbeitete Wiederveröffentlichung eines bereits auf FILMSTARTS erschienenen Artikels.