„Der Zerfall von Rotten Tomatoes: Die am meisten überschätzte Metrik für Filme ist unbeständig, reduktiv und leicht manipulierbar — und hat dennoch Hollywood im Griff“ überschrieb das Magazin Vulture zuletzt einen für viel Aufsehen sorgenden Artikel. Die komplexe Überschrift macht schon ganz gut deutlich, wie tief sich in dem Artikel mit den Problemen der Kritikensammelseite auseinandergesetzt wurde. In der öffentlichen Wahrnehmung spielte trotzdem vor allem ein einzelner Umstand ein Rolle: Es gab womöglich „gekaufte Kritiken“. Damit wurde der Artikel zwar eröffnet, doch es ist am Ende fast nur ein Randaspekt. Denn das Problem des „Hollywood im Griff haltenden“ sogenannten Tomatometers ist davon völlig unabhängig und viel größer.
Um zu erklären, müssen wir aber erst einmal auch die Sache mit den „gekauften Kritiken“ betrachten. Eine PR-Firma machte sich den Umstand zunutze, dass die größte und bedeutendste Kritikensammelplattform Hollywoods, eben Rotten Tomatoes, in den vergangenen Jahren seine Pforten öffnete und immer mehr Leute aufnahm – von YouTube-Kritiker*innen bis zu kleinen Blogger*innen. Hier zeigt sich schon ein Problem von Rotten Tomatoes, welches uns später noch mal begegnen wird.
Die Seite misst mit ihrem Tomatometer, wie viel Prozent der Kritiken für einen Film oder eine Serie positiv sind. Daraus ergibt sich ein Score von 0 bis 100. Im Wesentlichen sind die Kritiken dafür gleichgeschaltet. Es gibt zwar ein paar kleine Unterschiede in der Präsentation auf der Seite, aber für die Berechnung ist es am Ende völlig egal, ob eine Besprechung von einem seit 20 Jahren aktiven Veteranen beim hoch angesehenen Branchenmagazin Variety oder einem kleinen Blogger, der als Hobby für 50 Leser*innen schreibt, stammt. Dafür gibt es sicherlich Argumente – doch für die angebliche Manipulation war es natürlich das Einfallstor.
So manipulierte eine PR-Firma das Tomatometer für kleine Filme
Denn die PR-Firma soll laut dem Vulture-Enthüllungsartikel gezielt solche kleinen Blogger angesprochen und gebeten haben, positive Rezensionen zu einzelnen Filmen zu schreiben. „Obskure, oft sich selbst veröffentlichte“ Kritiker*innen seien das Ziel der Kampagne gewesen, schreibt so Vulture selbst. Es ist auch logisch. Bei einem renommierten Magazin festangestellte Kritiker*innen würden bei einem solchen Deal sehr viel riskieren. Käme das raus, würden sie ihren Job und ihre Reputation verlieren, in diesem Beruf kein Bein mehr auf den Boden bekommen und sich womöglich sogar mit Schadenersatzansprüchen konfrontiert sehen. Eine PR-Firma würde solche Leute wahrscheinlich auch gar nicht ansprechen – denn die Gefahr wäre sehr hoch, dass die eher nun wie Vulture einen Enthüllungsartikel über die unlautere Praxis schreiben, als sich auf ein solches Angebot einzulassen.
Daneben betreffen die Vorwürfe nur kleinere Filme, die oft gar nicht groß im Kino liefen. Der Billig-Bruce-Willis-Actioner „Gasoline Alley“ (siehe Bild) oder das in Deutschland trotz eines Casts um Daisy Ridley, Naomi Watts und Clive Owen ebenfalls nur auf DVD und Blu-ray veröffentlichte Historien-Drama „Ophelia“ werden im Artikel als Beispiele genannt.
Im Kino aufs Klo mit RunPee? Die Pipipausen-App wird gefeiert – aber ich finde sie fürchterlichDer Grund ist klar. Für die beiden großen Blockbuster des Sommers „Barbie“ und „Oppenheimer“ sind zum Beispiel jeweils über 460 Kritiken verzeichnet. Man könnte wahrscheinlich gar nicht so viele Kritiken kaufen, um eine Manipulation der sich aus all diesen Rezensionen ergebenden Gesamtwertung zu erreichen. Die PR-Firma konzentrierte sich dagegen auf diese oben genannten kleinen Filme, weil dort bereits ein halbes Dutzend positiver Kritiken dieser „obskuren“ Blogger*innen reichten, um den Tomatoscore massiv zu verändern. Schließlich gibt es hier teilweise nur zehn Kritiken.
Dies soll nicht kleinreden, was für ein Skandal es ist, dass sich Hobby-Kritiker*innen wohl für positive Rezensionen bezahlen ließen (angeblich gab es 50 Dollar) und auch Rotten Tomatoes nach der Enthüllung einzelne Rezensionen aus der Wertung nahm, aber die Personen weiter auf der Plattform lässt. Doch das wahre Problem der immer wichtiger werdenden Kritikensammelseite ist nicht diese kleine Manipulation, es ist viel größer: Es ist das Tomatometer selbst.
Auch jenseits jeglicher Manipulation: Darum ist das Tomatomester Mist!
Wir haben in der Vergangenheit schon wiederholt darauf hingewiesen, dass der Tomatometer-Wert mit größter Vorsicht zu genießen ist – und man wissen sollte, wofür er steht. Trotzdem hat er in den USA, aber auch verstärkt im Rest der Welt an Bedeutung gewonnen. Wie Vulture kritisch erklärt, ist es längst ein Siegel, wenn ein Film einen besonders hohen Tomatometer-Wert hat. Es hört sich ja gut an, dass ein Film einen Tomatometer-Score von 93 hat – er gilt sofort als „besser“ als ein Film mit zum Beispiel einem Score von 75. Doch das ist Unfug, denn was ist die Aussage dahinter?
Wie eingangs erklärt, misst die Website mit ihrem Tomatometer, wie viel Prozent der Kritiken positiv sind. Jede einzelne Kritik wird also in gerade einmal zwei Schubladen gesteckt: Ist sie positiv oder negativ? Es sollte jedem klar sein, wie grob vereinfachend das ist, wie wenig es den möglicherweise komplexen Gedanken und Aussagen in einem Text entspricht. Um es aber mal zu illustrieren, ein Beispiel:
- Stellen wir uns einmal Film A vor: Alle Leute finden diesen ganz gefällig. Nicht aufregend, nichts Besonderes, kann man sehen, muss man aber nicht wirklich und hat man direkt wieder vergessen. Es hagelt lauter mittelmäßige bis ordentliche Rezensionen (werden bei RT normalerweise noch zu den Positiven gerechnet). Hier bei FILMSTARTS wären es vielleicht 2,5 oder 3 Sterne. Film A hätte bei Rotten Tomatoes wahrscheinlich einen sehr hohen Tomatometer-Score, im Extremfall sogar von 100 Punkten.
- Dann stellen wir uns Film B vor: Er sorgt für mächtig Aufsehen und wilde Diskussionen. Die einen feiern ihn als Meisterwerk, andere attestieren ihm dagegen, zwar ganz viel versucht, aber sich dabei verhoben zu haben. Er spaltet so richtig. Hier bei FILMSTARTS gibt es vielleicht 4,5 Sterne. Film B hätte bei Rotten Tomatoes aber womöglich einen recht durchschnittlichen Tomatometer-Score, vielleicht bei 60 Punkten.
Doch nun mal die ehrliche Frage: Welcher Film interessiert euch mehr? Natürlich dürfte das Gros Film B sagen, doch wer nur auf den Tomatometer-Score schaut, wird Film A für einen der Must-See-Filme des Jahres halten und Film B völlig ignorieren.
Unser Appell: Lest die Kritiken!
Natürlich ist der Tomatometer-Score nicht nutzlos. Wenn ein Film eine hohe Prozentzahl positiver Kritiken hat, ist es durchaus so, dass man da mal genauer hinschaut. Auch wir erwähnen den Tomatometer-Score immer wieder in Artikeln, um darauf hinzuweisen, dass ein Film positiv besprochen wird. Wichtig ist aber, dass man die Zahlen nicht für sich alleine stehen lässt, versteht, idealerweise einordnet und nicht einfach so als Qualitätssiegel nimmt.
Wer unbedingt auf Zahlen steht, kann noch andere Scores heranziehen. Rotten Tomatoes hat selbst (sehr versteckt) auch immer die eigentliche Durchschnittswertung aller Rezensionen. Die deswegen (und auch aufgrund strengerer Auswahl) bessere Metrik von Konkurrent Metacritic setzt nur auf einen solchen Durchschnittswert. Das ist besser, aber aus vielen Gründen auch noch lange nicht die Optimallösung. Das ist eine andere...
Vulture zitiert in seinem Artikel unter anderem Paul Schrader und Quentin Tarantino, die beklagen, dass das heutige Publikum sich nur noch für solche Zahlen interessiert, statt die Kritiken dahinter zu lesen. Daher möchten wir mit dem Appell schließen, statt Zahlen zu vergleichen, einfach Kritiken zu lesen. Natürlich freuen wir uns, wenn ihr das bei uns macht – schließlich stecken unsere Kritiker*innen viel Zeit in sehr ausführliche Texte, die im Idealfall verschiedenste Facetten beleuchten. Doch auch wenn ihr das woanders macht, Hauptsache, ihr macht es (statt euch nur von solchen Zahlen leiten zu lassen).
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