Kauzige Figuren und pittoreske Anblicke in unmittelbarer Nachbarschaft von trostlosen Schicksalen. Und während die Protagonistin überzeugt ist, dass ihre Gefühle Unglück auslösen, glaubt ihre Oma, dass ihre Träume den Tod voraussagen. Mit dieser Prämisse wandelte sich Mariana Lekys Roman „Was man von hier aus sehen kann“ zu einem Stammgast auf den „Empfehlung unseres Teams“-Tischen deutscher Buchhandlungen.
Die Filmadaption wiederum bescherte dem Verfasser dieser Zeilen ein unvergessliches Kinoerlebnis, wurde aber gemeinhin von „Avatar 2“ an den Rand gedrängt. Vielleicht können der riesige Zottelhund, das Unheil versprechende Okapi und die Westerwald-Charakterköpfe jetzt beweisen, dass man sie nicht zugunsten von Weltall-Walen ignorieren sollte: Seit dieser Woche ist „Was man von hier aus sehen kann“ im Heimkino erhältlich.
"Was man von hier aus sehen kann": Nicht nur die deutsche Antwort auf "Amelié"
Die 22-jährige Luise (Luna Wedler) und ihre Oma Selma (Corinna Harfouch) sorgen in ihrem Heimatdorf im Westerwald regelmäßig für Tumult. Luise, weil sie glaubt, schlimme Ereignisse heraufzubeschwören, wann immer sie sich sträubt, die Wahrheit zu sagen. Und Selma, weil sie überzeugt ist, den Tod voraussehen zu können: Wann immer ihr im Traum ein Okapi erscheint, stirbt am nächsten Tag jemand. Auch die restliche Bevölkerung ist davon überzeugt, weshalb das reinste Chaos geschieht, als Selma wieder einmal im Schlaf einen dieser giraffenartigen Paarhufer gesehen hat...
Selbstredend schwebt Lekys Roman über den Dingen, doch man kommt nicht umhin, einen weiteren Einfluss auf „Was man von hier aus sehen kann“ zu spüren: „Die fabelhafte Welt der Amélie“, der moderne Filmklassiker schlechthin, wenn es um magischen Realismus geht. Statt panisch dem Vergleich aus dem Weg zu rennen, oder alternativ tolldreist bei der Dramödie mit Audrey Tautou zu klauen, positioniert sich Regisseur Aron Lehmann ganz natürlich und unverkrampft in ihrer Nähe.
Er formt die Romanvorlage zu einem „Amélie“-Pendant in deutscher Dorfgegend, das sich mit fortschreitender Laufzeit vom französischen Hit emanzipiert. Mit einem fast mannshohen Zottelhund, ausgeblichenen Geschäfts- und Café-Fassaden, einer sich rüttelnd durch's Land ackernden Eisenbahn und dieser Kleinstadt-Neugier, die schön und abstoßend zugleich ist: Bis zum Mittagessen weiß das ganze Dorf, wie deine Nacht war, so eng vernetzt sind alle, die ihre Nase in fremder Angelegenheiten stecken. Aber wenigstens manche von ihnen meinen das nicht böse...
Dass für „Was man von hier aus sehen kann“ weniger als 300.000 Kinokarten in den deutschen Lichtspielhäusern gelöst wurden, ist einfach traurig. Nicht zuletzt angesichts des Kinozaubers, den der Autor dieses Artikels erlebt hat: In einem fast ausverkauften Saal saßen Jung und Alt dicht an dicht gedrängt, und durchlebten die gesamte Gefühlsklaviatur. Ein älterer Herr schreckte bei jeder Unglücksvision der Protagonistin hoch. Die zarten Witze des Films wurden aus mehreren Reihen von jauchzendem Kichern begrüßt. Und im letzten Drittel blieb kein Auge mehr trocken, als hätte der Film bei jeder einzelnen Person im Saal den richtigen Nerv getroffen.
Womöglich rührt es daher, dass diese Dramödie trotz kleinerer Schönheitsfehler einen ebenso hübschen wie schwierigen Spagat hinlegt: Sie ist einerseits dank der „Amélie“-Anleihen ungewöhnlich für einen Kinofilm über das deutsche Dorfleben. Es schwebt ein Zauber durch die Luft, der nichts beschönigt oder entschuldigt, aber trotzdem allem eine entwaffnende Fluffigkeit verleiht.
Andererseits verleugnet „Was man von hier aus sehen kann“ seine Identität als deutsche Fiktion nicht: Wo andere Filmschaffende vielleicht versucht hätten, Lekys Roman zu internationalisieren, stellt Lehmann die deutschen Marotten der Figuren ins Rampenlicht. Das Ergebnis ist eine Ansammlung an schrägen Figuren, die nahezu einzigartig sind, und zugleich aus dem Leben gegriffen wirken und daher großen Wiedererkennungswert aufweisen. Nicht nur, aber insbesondere dann, wenn man in ländlichen Regionen groß geworden ist. Was offenbar auf viele Leute bei diesem einen Kinobesuch zutraf, der mit kollektivem Schluchzen, Schnäuzen und Tränenwegwischen endete.
Es mag sein, dass Lehmann zunächst „allzu sprunghaft zwischen den Stilen und Genres hin und her“ springt, wie auch in der FILMSTARTS-Kritik steht. Doch wie in ihr ebenfalls festgehalten wird, offenbart sich die Romanadaption letztlich äußerst effektiv als „berührender, emotionaler Liebesfilm“, der sich nicht in Kauzigkeit flüchtet, sondern sie nutzt, um ehrlich zu sein. So ehrlich, dass er traurig und schön zugleich ist.
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