Bei Produktionen über vermisste Kinder werden wohl viele Filmenthusiasten ganz unterschiedliche erste Assoziationen haben. Einige würde wohl an den gnadenlosen Thriller „Prisoners“ denken, andere hingegen an die mysteriöse Netflix-Serie „Dark“. Für mich wird die Liste mit der Romanverfilmung „Drei Tage und ein Leben“ wunderbar ergänzt. Der Geheimtipp findet nämlich eine wirklich einzigartige Balance aus Beklemmung, Spannung, inneren Zerwürfnissen und zwischenmenschlichen Drama. Das Gute dabei: In der französischen Version der arte Mediathek könnt ihr „Drei Tage und ein Leben“ aktuell sowohl in der Originalfassung wie in der deutschen Synchronisation komplett kostenlos streamen.
Darum geht es in "Drei Tage und ein Leben"
In einem kleinen Dorf in den Belgischen Ardennen stehen das Weihnachtsfest und die Jahrtausendwende vor der Tür. Der zwölfjährige Antoine (Pablo Pauly) ist schon gespannt, was er für Geschenke bekommen wird. Alles kommt plötzlich anders, als eines Tages sein Freund, der sechsjährige Rémi (Léo Lévy), vermisst wird. Tag für Tag sind die Polizei, aber auch die Bürger des kleinen Dorfs, damit beschäftigt, den Jungen wiederzufinden.
Nachdem ein Jahrhundertsturm das Dorf sowie die gesamte Umgebung in totaler Zerstörung zurücklässt, kommen die Ermittlungen zum Stillstand, haben die Bewohner nun erst einmal mit ihren eigenen Sorgen zu kämpfen. Inmitten all des Chaos befindet sich der kleine Antoine, der über den Vermisstenfall mehr weiß als alle anderen. Als dann einige Zeit verstrichen ist, scheinen nach und nach die Wunden zu heilen. Oder wird alles nur noch schlimmer?
Poetisch und dokumentarisch
Ich möchte ganz transparent sein. Bis vor wenigen Tagen hatte ich noch nie ein Sterbenswort über „Drei Tage und ein Leben“ gehört. Vielleicht hätte es aber nicht besser kommen können, sind es nicht gerade die Überraschungen, nach denen man sich sehnt? Das Besondere bei dem Drama liegt dabei in den ganz unterschiedlichsten Stärken narrativer, bildlicher, zeitlicher und kausaler Natur.
Der Film beginnt zugegebenermaßen relativ typisch für eine Krimi-Romanverfilmung mit der Etablierung des Ausgangsfalles. Gemäldehafte Bilder ziehen uns dabei aber bereits in den ersten Minuten in den Bann, an filmischer Poesie mangelt es auch den gesamten Film über in keiner Weise. Im Laufe des ersten Drittels kommt dann die erste Überraschung.
Was sich dann in der teilweise auf wahren Begebenheiten basierenden Geschichte ereignet, will ich hier nicht verraten. Denn allein schon die Unwissenheit, was wirklich passierte und was nicht, ist eine der großen Stärken des Films. Dass „Drei Tage und ein Leben“ dabei aber an einen der zuletzt besten, hier auf FILMSTARTS sogar mit der Meisterwerk-Höchstwertung von 5 Sternen bedachten Horrorfilm erinnert, muss erwähnt werden.
Albtraumhaft wie "Hereditary"
Auch mit der Gefahr, ein klein wenig vorwegzunehmen, ist der Vergleich zu „Hereditary“ zwingend: Es eine Kunst, das Publikum mit einem absolut flauen Magen zurückzulassen, die auch der französische Krimi exzellent beherrscht. Wie eine Welle kommt ab einem gewissen Punkt nun der Horror auf, gepaart mit jeder Menge Spannung. Regisseur Nicolas Boukhrief weiß glücklicherweise haargenau damit umzugehen und so wird die Welle geschürt. Doch die nächste Überraschung lässt nicht lange auf sich warten, wenn der Jahrhundertsturm über das Dorf herabbricht.
Dieser ist nicht nur atemberaubend in Szene gesetzt, sondern hinterlässt eine intensive Gänsehaut, wie man sie nur selten erlebt. Der Horror erreicht dabei seinen Zenit und auch hier muss ein weiterer Vergleich her – zu „Adams Äpfel“. Beide Filme zeigen auf eindrucksvollste Art und Weise, wie unheimlich ein Gewitter sein kann, das einem den Atem raubt. Gerade durch die vielen unterschiedlichen Facetten (poetische, dokumentarische und letztlich albtraumhafte Bilder), ist „Drei Tage und ein Leben“ so einzigartig wie einprägsam.
Absolute Zeitlosigkeit
Die Ereignisse spielen sich dabei erst innerhalb von wenigen Tagen ab, bis dann irgendwann ein Zeitsprung folgt. Durch diese anfängliche Verdichtung hat der Film genug Zeit, um an anderer Stelle atmen zu können. Es ist somit kein Krimi, der das Publikum mit all seinen Facetten bombardiert, im Gegenteil. Jede einzelne Komponente ist perfekt abgestimmt und ergänzt sich mit dem Rest auf hervorragende Art und Weise.
Ein letzter Vergleich muss noch her, dann ist auch Schluss. „Die Jagd“ mit Mads Mikkelsen wird für viele sicherlich kein Geheimtipp mehr sein. Auch hier lassen sich einige Parallelen herstellen. Wie geht ein kleines Dorf untereinander mit sich um? Das ist eine Frage, die ebenso im Raum steht und von beiden Filme meisterhaft aufgegriffen wird. „Drei Tage und ein Leben“ zeichnet dabei mit Verzweiflung, Kummer, Angst und inneren Zerwürfnissen ein ziemlich realistisches Bild der Welt.
„Drei Tage und ein Leben“ lässt sich als vieles bezeichnen: ein gleichermaßen nachfühlbarer und unerträglicher Psychothriller. Ein bitterernstes Drama über ein paralysiertes Kleinkind. Ein Heimatfilm, der wohl genauso in der nächsten Ortschaft passieren könnte (Gott bewahre). Ein gelungener Kriminalfilm, bei dem die Auflösung des Falls an einem seidenen Faden hängt. Ein bildgewaltiger Film über das einfache dörfliche Leben. Ein feinfühliges Portrait über Konsequenzen. Ein noch viel feinfühligeres Abbild über eine Eltern-Kind-Beziehung, die an Subtilität nicht besser eingefangen werden könnte. Ein intensiver Horrorfilm.
Ergo: Schlichtweg eine echte Filmperle, die auf so vielen unterschiedlichen Ebenen grandios funktioniert.
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