+++ Meinung +++
Sie war nie weg, aber aktuell genießt sie eine neue Welle positiver Aufmerksamkeit: Christina Ricci, die als sarkastisch-unverblümte Wednesday in den „Addams Family“-Filmen für Generationen an Fans unsterblich wurde. In genau diese morbid-schräge Welt kehrte sie kürzlich zurück, indem sie eine Nebenrolle im Netflix-Serienhit „Wednesday“ übernahm. Wie passend, dass jetzt außerdem eine ihrer leider oft übersehenen, starken Rollen wieder im Free-TV zu sehen ist:
Der MDR zeigt heute Abend, am 12. Dezember 2022, ab 23.15 Uhr das Sex-Drama „Der Eissturm“ von „Life Of Pi“-Regisseur Ang Lee. In der Romanadaption aus dem Jahr 1997 sollte ursprünglich Natalie Portman als 14-Jährige auftreten, die ihre Sexualität ausprobiert. Sie lehnte die Rolle jedoch ab, woraufhin Ricci mit großem Eifer um den Part buhlte.
"Der Eissturm": Eiseskälte, heiße Gelüste und zerknautschte Gemüter
Herbst in Neuengland, anno 1973: Während die Nachrichten von Watergate und dem Vietnamkrieg dominiert werden, überschattet in einem Städtchen ein anderes Thema das Leben der Bevölkerung. Sex! Wer keinen hat, ist deshalb geknickt oder angesäuert. Wer welchen hat, will besseren Sex haben und ist deswegen unleidlich. Darum schwebt der neuste Trend verführerisch über den Köpfen der Erwachsenen: Schlüsselpartys, bei denen ausgelost wird, wer am Ende des Abends mit wem heimfährt.
Doch der selbst außerhalb solcher Partnertauschfeiern untreue Ben Hood (Kevin Kline) und seine einzelgängerische Gattin Elena (Joan Allen) müssen einsehen: Sex ist keine Universallösung. Ähnlich verhält es sich bei ihren Nachbarn, dem scheuen Jim Carver (Jamey Sheridan) und der gelangweilten Janey Carver (Sigourney Weaver). Abenteuerlicher geht es bei der Folgegeneration zu: Der 16-jährige Comicnerd Paul Hood (Tobey Maguire) testet mit seinem Schwarm Libbets (Katie Holmes) Drogen aus. Seine 14-jährige Schwester Wendy (Christina Ricci) wiederum verwickelt die Nachbarskinder Mikey (Elijah Wood) und Sandy Carver (Adam Hann-Byrd) in ein Dreieck der sexuellen Erkundungsspielchen...
Die Filmschaffenden hielten Natalie Portman für die perfekte Besetzung der Wendy Hood – stießen bei der Schauspielerin allerdings auf Ablehnung: Ihr war das auf dem gleichnamigen Roman des Schriftstellers Rick Moody basierende Drama zu überladen mit sexuellen Inhalten. Doch im Gegensatz zu Portman, die nach „Léon - Der Profi“ vorerst weniger in diesem Themenbereich machen wollte, suchte Ricci genau danach. Durch Familienfilme wie „Casper“ sah sie sich, allen morbiden Anflügen der „Addams Family“ zum Trotz, in einem kindlich-unschuldigen Image gefangen, das sie aufbrechen wollte.
Neu im Heimkino: So habt ihr diesen gruselig-genialen 90er-Kultfilm noch nie gesehen!Laut Ricci stieß sie aber auf Ablehnung des Teams, das sie sich nicht in der Rolle vorstellen konnte. Erst, nachdem ihre Agentur die „Der Eissturm“-Crew bekniete, wurde Ricci zum Vorsprechen eingeladen. Was für ein Glück! Einerseits für Riccis Karriere, die sich durch diesen Film für neue Rollentypen qualifizierte, andererseits für „Der Eissturm“. Denn Ricci ist in einem rundum äußerst überzeugenden Ensemble der stärkste Part: Sie spielt Wendy mit einer lebensnahen Ruhe als wissbegierige, umtriebige Rotznase. Sie verfolgt keine bösen Absichten, jedoch setzt sie sehr gezielt Scheuklappen auf, wenn sie mit ihrer pubertären Lust Gefühlschaos bei den Nachbarsbrüdern stiftet.
Dank Riccis bodenständiger, herbstlich temperierten Darstellung ist die Jugendliche eine facettenreiche Sympathieträgerin, deren Makel nicht entschuldigt werden – und dennoch verzeihlich sind. Auch Riccis Filmvater Kevin Kline leistet eine beeindruckende Darbietung: Wenn er nach einem emotionalen Gespräch Wendy wärmend in den Armen trägt, gibt er den mitfühlenden, wortkargen Familienvater. Wenn er seinem jugendlichen, vom Gespräch angewiderten Sohn ungelenke Masturbationstipps gibt, ist er wohlmeinend, jedoch begriffsstutzig. Und auf der glanzlosen Schlüsselparty ist er ein in Selbstmitleid versinkender Tropf – all das vereint Kline mühelos zu einer stimmigen Figur.
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Obwohl die Hormone bei sämtlichen Figuren überkochen, bleibt Ang Lees Regiearbeit durchweg den fröstelnden Temperaturen Neuenglands treu: Dort, wo viele andere Regisseure auf Gekeife setzen würden, sowie auf den mahnend wedelnden Zeigefinger und triefende 70er-Nostalgie, positioniert er sich als kühl-trockener Beobachter.
Mit stilsicherer, unaufdringlicher Kameraführung rückt Lee in die dröge Welt seiner Figuren vor, während unablässig die poetisch-unheilvolle Präsenz von Eis und Frost zunimmt. Ohne diese symbolische Metapher zu überreizen, schafft Lee damit eine still-tragische Grundatmosphäre. Die bricht das feingliedrige Drehbuch von James Schamus („Brokeback Mountain“) mehrmals mit beiläufig-selbstverständlichen Frivolitäten und akzentuierten Momenten der Empathie auf.
Somit wird „Der Eissturm“ zu einem klug beobachteten, mal komischen, mal niederschmetternden, stets verständnisvollen Drama über Sexualität und das, was noch ahnungslose Jugendliche ungewollt dadurch ersetzen. Wohingegen orientierungslos gewordene Erwachsene es sogar gezielt durch Sexualität ersetzen wollen, aber selten können: Kommunikation auf Augenhöhe.
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