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    Abgefuckte Free-TV-Premiere: Orgien, Walgesänge und ein Flammenwerfer in einem total irren, stylischen Bilderrausch
    Sidney Schering
    Sidney Schering
    -Freier Autor und Kritiker
    Sein erster Kinofilm war Disneys „Aladdin“. Schon in der Grundschule las er Kino-Sachbücher und baute sich parallel dazu eine Film-Sammlung auf. Klar, dass er irgendwann hier landen musste.

    Wenn die Heldin Ampeln abfackelt, ihrem riesigen sexuellen Appetit nachgeht und ihr Adoptivkind abgibt, weil es nervt, dann sind wir keineswegs im Tanzfilm-Alltag: Der rhythmische Trip „Ema – Sie spielt mit dem Feuer“ feiert heute Free-TV-Premiere.

    +++ Meinung +++

    Eine junge Frau ist mit einem älteren Choreografen zusammen und verdingt sich tagsüber als Lehrerin, obwohl sie vor allem für die Musik lebt, der sie abends als Teil einer Tanztruppe frönt: Das klingt wie der Stoff, aus dem ein alltäglicher Tanzfilm ist. Vor dem inneren Auge laufen bereits Szenen ab wie ein Termin-Dilemma, das die Heldin zwingt, zwischen Beruf und Passion zu entscheiden. Und gewiss bringt der ältere Choreograf ihr Disziplin bei, sie ihm aber eine offene Haltung gegenüber Neuerungen! All das könnte man über „Ema - Sie spielt mit dem Feuer“ mutmaßen, doch dann befindet man sich im falschen Film:

    Bei dem rauschhaften, flammend-unangepassten Reigen aus knalligen Farben und heißen Rhythmen handelt es sich um einen Film, den Pablo Larraín zwischen der albtraumhaften Jackie-Kennedy-Biografie „Jackie: Die First Lady“ und der fiebrigen Prinzessin-Diana-Fabel „Spencer“ gedreht hat. Und wie diese starken Filme ist auch „Ema“ ein Genregrenzen sprengender, gesellschaftliche Konventionen hinterfragender Blick auf eine intensive, fesselnd-komplizierte Frauenfigur. Heute Abend feiert „Ema“ seine Free-TV-Premiere ab 23.10 Uhr bei arte!

    "Ema": Feurig-intensiv und berauschend

    Ema (Mariana Di Girólamo) und Gastón (Gael García Bernal) sind Mitglieder einer Tanztruppe und daher ständiges Drama gewöhnt. Als allerdings Emas Adoptivsohn Polo (Cristián Suárez) ihre Schwester schwer verletzt, reißt der Geduldsfaden der passionierten Tänzerin: Sie gibt den Jungen einfach ab – und wird daraufhin mit harscher Kritik konfrontiert. Weder ihr Freund, noch der Rest ihrer Tanztruppe zeigt Verständnis für diese Entscheidung, und auch das Jugendamt ist empört. Ema sieht es allerdings nicht ein, sich in Mitleid oder Reue zu üben. Stattdessen begehrt sie auf und setzt mit ihrer Mädchen-Gang sprichwörtlich wie wortwörtlich alles in Brand, was ihr nicht passt!

    Eine tanzverrückte Heldin mit Schweißermaske, so als befänden wir uns im 80er-Megaerfolg „Flashdance“: Der Auftakt von „Ema“ lässt noch mutmaßen, dass sich Larraín an einer ganz eigenen Hommage am Tanzfilm-Genre versucht. Unerwartet wäre es nicht, schließlich diente in „Jackie“ ein Stück aus dem Musical „Camelot – Am Hofe König Arthurs“ als roter Faden. Doch dann nimmt die zierliche sowie verbissene, platinblonde Titelheldin ihren Flammenwerfer und beginnt eine Attacke gegen die ätzenden Dinge des Alltags – wie etwa Straßenampeln, die sich erdreisten, ihr zu sagen, wann sie gehen darf und wann sie stehen bleiben muss.

    Es ist ein hervorragender Auftakt für dieses soghafte, temporeiche und ebenso grotesk wie wild zwischen Tonalitäten zappelnde Tanz-Drama, da diese Szene nicht nur mit überbordendem Selbstbewusstsein Ema vorstellt. Sie gibt auch den Takt für den restlichen Film vor, in dem alles eine Spur lauter und forscher ist: Die Persönlichkeiten der zentralen Figuren, allen voran die sexuell unersättliche Ema, die sich sowohl im beneidenswerten wie im erschütternden Sinne nichts gefallen lässt. Die Farbwelten, in denen die Figuren leben, lieben, streiten und liebend gerne streiten. Und die Dialoge, die sich zuweilen anhören, als wäre selbst Emas Privatleben eine Aufführung.

    Plaion Pictures
    Ema lässt ihre Welt in Flammen aufgehen

    Insbesondere die Zwists zwischen Ema und Gastón wirken unauthentisch. Nicht aber in einem „Ema“ schadenden Sinne: Larraín verfolgt eine konsequente Vision, und so können selbst bei fiesesten Streitereien seine Figuren nicht aus ihrer Haut. Sie debattieren, als hätten sie ein Publikum und Freude daran, es zu schockieren. Da passt es dann auch, wenn Adoptivkind-Weggeberin Ema sich nach allerlei Disharmonie säenden Eskapaden ohne einen einzigen Hauch der Ironie als Familienzusammenführerin feiert. Echt abgefuckt, aber es ergibt in Emas Augen sogar Sinn!

    Ehrlichkeit ohne doppelten Boden lässt sich in „Ema“ derweil ausschließlich dann finden, wenn es um Tanz und Sex geht. Denn Ema geht stets zu voller Blüte auf, sobald sie sich leidenschaftlich einem Rhythmus hingeben kann – egal ob dem der Musik oder doch dem Takt eines begierigen Körpers. Das Gefühl, etwas darstellen oder behaupten zu müssen, verschwindet. Ema ist in diesen Momenten.

    Die Krönung sind dementsprechend die Montagen, in denen Larraín die sich zahllosen Einflüssen (von Reggaeton bis zu Walgesängen!) hingebende Musik von Nicolas Jaar voll aufdreht. Dann feiert der Film so, wie seine Titelfigur. Begleitet wird das unter anderem mit aufblitzenden Bildern feuriger Orgien sowie mit Aufnahmen unermüdlicher Protestmärsche, als sei all das eine ambitionierte Tanzkunst-Performance.

    Einer der besten "Saw"-Filme sollte ursprünglich gar nicht zum legendären Horror-Franchise gehören - und wäre fast in Deutschland produziert worden!

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