Vor einigen Jahren stand das „Who Am I“-Team Baran bo Odar und Jantje Friese vor der Aufgabe, die erste deutsche Eigenproduktion des gerade damals als Serien-Mekka geheiligten Netflix auf die Beine zu stellen. Eine spannende, obgleich wohl auch furchteinflößende Herausforderung – die die beiden 2017 schließlich aber mit Bravour meisterten und 2020 ähnlich virtuos zum Ende führten, wie sie sie begonnen hatten.
Das für reihenweise Kopfschmerzen sorgende Zeitreise-Verwirrspiel „Dark“ wurde, längst nicht nur in Deutschland, zu einem Kritiker- und Publikumshit – und ließ die Vorfreude auf und die Erwartungen an das Nachfolgeprojekt von Odar und Friese in schwindelerregende Höhen wachsen. Und so dürfte auch der Druck bei ihrer zweiten Netflix-Serie „1899“ nicht minder groß gewesen sein als bei ihrer ersten.
Kann so ein Wurf überhaupt noch mal gelingen? Nach den sechs Folgen, die wir von der insgesamt achtteiligen ersten Staffel, vorab schon sehen konnten, können wir das tatsächlich größtenteils bejahen: Das „Dark“-Duo zementiert mit „1899“ endgültig seinen Ruf als Meister moderner Mystery-Unterhaltung – auch wenn es (noch) nicht ganz zur Klasse der Vorgängerserie reicht...
Die Story von "1899" – spoilerfrei
Ähnlich wie schon bei „Dark“ sollte man auch im Fall von „1899“ im Vorfeld möglichst wenig über die Handlung wissen, da die Twists und Enthüllungen schon ab Folge 1 hinter jeder Ecke lauern. Daher wollen wir an dieser Stelle nur die Grundzüge der Story umreißen – selbstverständlich ganz ohne Spoiler.
Im titelgebenden Jahr 1899 machen sich über 1.500 Passagiere aus verschiedenen Schichten und den unterschiedlichsten Teilen Europas mit dem Schiff Kerberos auf den Weg nach Amerika, um ihr altes Leben hinter sich zu lassen und einen Neuanfang zu wagen. Bei der Überfahrt dauert es jedoch nicht lange, bis die Crew eine Nachricht ihres seit Monaten verschollenen Schwesternschiffs Prometheus empfängt und Kapitän Eyk Larsen („Dark“-Star Andreas Pietschmann) beschließt, der Sache auf den Grund zu gehen.
Was sie allerdings an Bord des offenbar menschenleer umhertreibenden Dampfers finden, stellt die Welt aller Mitreisenden auf den Kopf. Ein Albtraum, der auf mysteriöse Weise mit der Vergangenheit jedes Einzelnen verbunden zu sein scheint, nimmt seinen Lauf ...
Volle Fahrt voraus
... und das erstaunlich rasant! Die Kohlekessel von „1899“ werden von Minute 1 an kräftig befeuert, mit einer großen Einleitung halten sich Baran bo Odar und Jantje Friese nicht auf. Das passt – ohne zu viel zu verraten – bestens zum Konzept und wirft das Publikum ebenso unvermittelt in das rätselhafte Mystery-Geschehen wie die (größtenteils) ahnungslosen Hauptfiguren. Das Tempo wird dann zwar etwas gedrosselt, in Sachen Wendungen geht es hier aber trotzdem Schlag auf Schlag, nicht zuletzt weil jede Folge mit einer neuen (musikalisch stimmungsvoll von einem passenden Evergreen begleiteten) Enthüllung beendet wird, die – so weit, so genretypisch – meist mehr Fragen aufwirft, als sie beantwortet.
Auf der anderen Seite wird so allerdings auch der Zugang zu den vielen Figuren ein Stück weit erschwert. Nahm sich „Dark“ noch viel Zeit, um uns den Kleinstadtkosmos und die zentralen Familien darin vorzustellen, bevor einem dann umso effektiver allmählich der Boden unter den Füßen weggerissen wurde, bleiben viele Charaktere hier noch eher blass.
Spannendes Sprachenwirrwarr
Wir sind allerdings vorsichtig optimistisch, dass sich das im Laufe der geplanten drei Staffeln noch ändert, zumal das enorme Potenzial für viele spannende, bisher aber nur in „Lost“-artigen Quasi-Flashbacks angerissene Geschichten bereits angelegt ist. Die bloße Figurenkonstellation und der durchaus gewagte Umgang mit dieser erzeugen jedenfalls schon jetzt eine ganz eigene Dynamik, aus der noch viel mehr entwachsen kann. In „1899“ reden nämlich alle in ihrer jeweils eigenen Landessprache – Deutsch trifft hier auf Englisch, Dänisch, Französisch und Spanisch (um nur einige zu nennen).
Das Geflecht aus Kommunikation und Misskommunikation, Verständnis und Unverständnis, dem Scheitern und Überwinden von Sprachbarrieren im Angesicht einer verbindenden Bedrohung kommentiert nicht nur die Eigenheiten menschlicher Verständigung an sich, sondern sorgt auch für einige der stärksten und emotionalsten Momente zwischen den toll aufspielenden internationalen Cast-Mitgliedern in „1899“. Wir empfehlen daher auch Synchro-Freunden in diesem Fall ganz klar, zur multilingualen Originalversion (und nicht zur ebenfalls auf Netflix verfügbaren komplett Deutsch synchronisierten Fassung) zu greifen!
So geht Mystery
Der Einstieg in „1899“ mag einige Nachteile mit sich bringen, wenn es aber um die Konstruktion ihres Rätselgeflechts geht, sind Baran bo Odar und Jantje Friese voll in ihrem Element. Schon bei „Dark“ hat das Duo ein unfassbar gutes Händchen dafür bewiesen, ihre Informationen im richtigen Maß und Rhythmus zurückzuhalten und zu streuen, um das Publikum begierig eine Folge nach der anderen verschlingen zu lassen.
Bei „1899“ ist das jetzt nicht anders. In der Tat versprüht die Serie in Sachen Mystery-Zutaten, aber auch hinsichtlich Optik und Tonalität jede Menge „Dark“-Vibes. Auch diesmal werden unterschiedliche Genres auf oft unvorhergesehene Weise miteinander verknüpft. Wer glaubt nach dem Promo-Material zu wissen, wohin der weiße Hase bei seinem Abstieg ins düstere Geisterschiff-Wunderland läuft, dürfte jedenfalls sein blaues Wunder erleben, auch wenn wahrscheinlich nicht jede*r mit der eingeschlagenen Richtung glücklich werden dürfte. Bei all dem wiederholen sich Odar und Friese aber nicht einfach, sondern schaffen erneut einen ganz eigenen faszinierenden Kosmos.
Dichte Welt dank "Star Wars"-Technik
Und was der Stimmung durch die etwas gehetzte Erzählung hier und da abgeht, wird durch die versierte Inszenierung zu großen Teilen wettgemacht. Odar, der bei jeder der acht Folgen auf dem Regiestuhl saß, holt viel aus seinem begrenzten Schauplatz raus und lässt das eigentlich so kammerspielartige Setting oftmals viel größer wirken, verstecken sich in jedem Gang von Kerberos und Prometheus doch nicht nur ständig neue Geheimnisse, sondern oftmals auch überraschende Tore in die Seelen der Protagonist*innen.
Zu Gute kommt ihm hier auch die aufwändige Technik im Hintergrund. Eigens für „1899“ wurde im traditionsreichen Studio Babelsberg vor den Toren Berlins nämlich ein wegweisendes Atelier für virtuelle Produktionen errichtet, wie es jüngst auch bei den „Star Wars“-Serien auf Disney+ zum Einsatz kam. Im sogenannten Volume findet der Dreh inmitten einer riesigen LED-Installation statt, die es ermöglicht, dass am Computer generierte Schauplätze und Hintergründe direkt bei der Produktion so hinter die Schauspielerinnen und Schauspieler projiziert werden, dass sie sich so fühlen, als seien sie tatsächlich in dieser Umgebung.
Und dieser Effekt überträgt sich nun auch nahtlos auf die Zuschauer*innen. Die dadurch erzeugte Immersion trägt im Zusammenspiel mit dem geschickt verknoteten Rätselkonstrukt ganz entscheidend zur starken Sogwirkung von „1899“ bei.
Fazit
Baran bo Odar und Jantje Friese haben es wieder geschafft! Nach „Dark“ bietet auch „1899“ feinste Mystery-Unterhaltung voller sorgsam platzierter Puzzleteile und kreativer Twists, die teilweise so unerwartet sind, das sich so manche*r vor den Kopf gestoßen fühlen könnte. „Dark“ fiel durch den behutsameren Aufbau zwar noch einen Tick atmosphärischer aus, dem Binge-Verlangen kann man sich aber auch bei „1899“ nur schwer verwehren.
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