Als zuletzt die Filme Wächter der Nacht und Wächter des Tages hierzulande in die Kinos kamen, wurde auf Plakaten groß damit geworben, dass die Filme die „neue“ Kinorevolution aus Russland seien. Ob die Filme tatsächlich das Erbe, auf das hier angespielt wird, schultern können, mag jeder für sich selbst entscheiden. Immerhin steht die „alte“ Kinorevolution aus Russland, die sich in den 1920er Jahren abspielte, für nichts geringeres als den unvergleichlichen Erfolg von Sergej Eisensteins Klassiker „Panzerkreuzer Potemkin“. Der Ruhm des Stummfilms wurde vielfach verbrieft und besiegelt: Eisenstein fertigte aus der Geschichte um einen aufbegehrenden Matrosen, der die Revolution der Arbeiter und Bauern einleitet, einen bildgewaltigen (Propaganda-)Film, der zu Recht als einer der „besten Filme aller Zeiten“ gilt.
Auf der Potemkin herrschen miserable Zustände. Die Mannschaft wird geschunden. Das Fleisch, das der Besatzung zu essen gegeben wird, ist halb verrottet. Unter den Matrosen werden Stimmen lauter, die der Unterdrückung ein Ende setzen wollen. Ihr Anführer Vakulinchuk (Aleksandr Antonov) hält große Reden, die immer mehr Besatzungsmitglieder in ihren Bann ziehen. Als sich die Mannschaft geschlossen weigert, die Suppe aus verdorbenem Fleisch zu essen, will der Kapitän den Kapriolen Einhalt gebieten. Er ordnet an, eine Gruppe Aufständischer zu erschießen. Das bringt das Fass zum überlaufen und die Matrosen wenden sich endgültig gegen die zaristische Führung. Obwohl der Umsturz erfolgreich ist, findet Vakulinchuk im Tumult seinen Tod. Sein Leichnam wird als Mahnmal im Hafen von Odessa zur Schau gestellt. Sein Heldentod macht schnell die Runde und mobilisiert die Massen, die zum Hafen pilgern. Dort versammelt, werden sie von zaristischen Truppen überrascht, die die drohende Revolution gewaltsam niederzuschlagen versuchen. Nur durch das Eingreifen der Potemkin wird Schlimmeres verhindert. Doch schon droht das nächste Unheil: Die gesamte russische Armada zieht gegen das gemeuterte Panzerschiff auf…
Die Geschehnisse, die in „Panzerkreuzer Potemkin“ erzählt werden, gehen auf die Revolutionsereignisse des Jahres 1905 zurück. Zum 20. Jahrestag gab die Regierung 1925 bei Eisenstein einen Film in Auftrag. Da der Film ursprünglich nur als Teil der Feierlichkeiten zum Gedenken der Revolution geplant war, lief er zu diesem Anlass zunächst auch nur für vier Wochen im Bolschoi Theater. Das allerdings mit so unerwartet großem Erfolg, dass der Film ein Jahr später seinen Siegeszug um die Welt antrat. Wie so viele Stummfilme ereilte auch „Panzerkreuzer Potemkin“ das Schicksal, auf dem Schneidetisch unters Messer zu kommen. In vielen Ländern wurde versucht, die Fassung den Gegebenheiten des jeweiligen Publikums anzupassen. Im diesem Falle waren vor allem politische Gründe ausschlaggebend für diese Verstümmelungen. Die Zensoren hatten offenbar Angst, dass es zur Revolution kommt, wenn die Menschen den Film in seiner ursprünglichen Form zu sehen bekommen.
Damit ist das prekäre Verhältnis zwischen Kunst und Leben angesprochen, das vor allem bei Propagandafilmen oft weitreichende Folgen hat. Schon sehr früh haben Politiker das Potential des Kinos entdeckt und für ihre Zwecke auszunutzen versucht. Kaiser Wilhelm II. war einer der ersten Staatsmänner, der die Möglichkeiten des Mediums erkannte und sich daher oft filmen ließ. Prekär wird das Verhältnis freilich erst da, wo der Film als Mittel benutzt wird, um fragwürdige politische Ziele zu erreichen. Die Dokumentation „Harlan – Im Schatten von Jud Süss“ reflektiert etwa diesen Aspekt, der die Vita von Veit Harlan so stark geprägt hat. Doch wo Regisseure wie Veit Harlan oder Leni Riefenstahl immer unter dem Stigma betrachtet werden (müssen), dass sie sich erstens selbst instrumentalisieren ließen und zweitens ihre Werke zu Werkzeugen gemacht wurden, ist es beim Eisensteinschen „Panzerkreuzer Potemkin“ offensichtlich weniger problematisch von einem filmischen Meisterwerk zu sprechen. Friedrich Wilhelm Murnau ließ sich, nachdem er den Film gesehen hat, gar zu der Äußerung hinreißen, dass er das Filmhandwerk nun an den Nagel hängen müsse.
Doch was macht das revolutionär Neue an Eisensteins Werk aus? Eine Besonderheit liegt in der Entstehungsgeschichte beziehungsweise in der Konzeption des Films begründet. Die Handlung gibt auf der einen Seite vor, einen historischen Stoff quasi dokumentarisch nachzuerzählen – nämlich die Ereignisse aus dem Jahre 1905. Andererseits schuf Eisenstein aber ein klassisches Drama in fünf Akten, in das er die tatsächlichen Ereignisse umformte, ohne dabei den dokumentarischen Charakter aufzugeben. Im Grunde gibt es nur eine Figur, die zumindest drei Akte miteinander verknüpft: den Matrosen Vakulinchuk. Er steht am Beginn des Aufstandes auf dem Schiff und stirbt an dessen Ende für seine Sache. Was anschließend geschieht, reiht sich nahtlos in das Erzählmuster klassischer Märtyrer-Geschichten ein, die besonders im politischen Kontext des 20. Jahrhunderts enorm erfolgreich wurden (Sophie Scholl, „Rosa Luxemburg“). Denn erst durch die Aufbahrung seines blutüberströmten Leichnams im Hafen von Odessa, der Zurschaustellung des „Blutzeugen“ (so die wörtliche Bedeutung von Märtyrer), kommt es zur Mobilisierung der Massen. Vakulinchuk wird zum Vorbild für die Revolution, da die Massen nun bereit sind, seinem Beispiel folgend für die Befreiung aus der Unterdrückung notfalls bis zum Tod zu kämpfen.
Ungewöhnlich ist zweifelsohne auch Eisensteins Montagetechnik, über die er auch einige Traktakte verfasste, die nach wie vor als Klassiker der Filmliteratur gelten. Keiner vor ihm verstand es so wie Eisenstein, die Schnitttechnik als etwas zu benutzen, mit dem man Bedeutung konstruieren oder Emotionen beim Zuschauer gezielt hervorzurufen kann. Was letztlich hinter dieser Herangehensweise steckt, ist ein Verständnis von Film als Sprache. Kurz nach Eisensteins „Panzerkreuzer Potemkin“ entstand Dsiga Vertovs „Der Mann mit der Kamera“ – ein Experiment, das eben in diesem Geiste entstand, eine eigenständige Grammatik für den Film zu finden. Vertovs Film kommt ohne erklärende Zwischentitel aus, da die Bedeutung der Bilder aus ihrer Anordnung auf dem Schneidetisch heraus entsteht. Viele hofften damals tatsächlich mit dem neuen Medium Film eine Art Universalsprache gefunden zu haben, die ohne den Einsatz von Wörtern einer bestimmten Sprache überall auf der Welt verstanden werden kann.
Fazit: Heutzutage lässt sich beim wiederholten Sehen von „Panzerkreuzer Potemkin“ kaum noch ermessen, wie enorm der Schock für die ersten Zuschauer damals gewesen sein muss. Das liegt mitunter daran, dass vieles von dem, was Eisenstein entwickelt hat, inzwischen zum Allgemeingut wurde und tagtäglich Anwendung findet. Seit einigen Jahren liegt eine sehr gut restaurierte Fassung des Films vor, die vor allem die unbändige Bildgewalt des Eisensteinschen Werkes lebendig vor Augen führt. Das Fortschrittliche und Moderne an Eisensteins „Panzerkreuzer Potemkin“ wird vor allem dadurch deutlich, dass sich das beim Betrachten anderer Stummfilme häufig aufkommende Befremdungsgefühl hier nicht einstellt.