Mein Konto
    Reservoir Dogs
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    5,0
    Meisterwerk
    Reservoir Dogs
    Von Ulrich Behrens

    Tarantinos Regiedebüt – mit dem unsäglichen deutschen Titel „Wilde Hunde“ – zeigt schon deutlich die Vorlieben des Regisseurs für ein Kino, das gegen den Strich bürstet, was klassische Dramaturgie, inhaltliche Aussage und Effekte angeht. Tarantino schafft klassische Tragödien und handelt doch gegen deren Regeln. Formal ist „Reservoir Dogs“ eine solche klassische Tragödie mit dem kathartischen Ende, dem Tod aller, und doch durchbricht er diese klassische Form der Tragödie an etlichen Punkten. Die Geschichte selbst ist derart simpel gestrickt, das sie nicht weiter auffällt. Wie Tarantino diese Geschichte aber verarbeitet, ist hoch interessant und spannend inszeniert.

    Acht Männer sitzen in einem Café und freuen sich auf ihren viel Geld versprechenden Job. Die Kamera wandert minutenlang um die Gangster herum, die sich ihres Erfolgs sicher sind, sie scherzen, ärgern ihren Auftraggeber Joe Cabot (Lawrence Tierney), einen erfahrenen Gangster, für den die anderen einen Juwelier ausrauben sollen. Tarantino stellt sie vor, die sich – so will es Cabot – nur mit ihren Spitznamen kennen: Mr. White (Harvey Keitel), Mr. Orange (Tim Roth), Mr. Blonde (Michael Madsen), Mr. Pink (Steve Buscemi), Mr. Blue (Edward Bunker), Mr. Brown (Quentin Tarantino) und Nice Guy Eddie (Chris Penn). Sie sprechen über Madonnas „Like a Virgin“, über den Sinn oder Unsinn von Trinkgeldern. Als sie das Café verlassen, sehen sie aus wie die Men in Black, schwarze Anzüge, Sonnenbrillen, zu allem entschlossen.

    Der Job geht schief. Die Polizei war anwesend. Und der Verdacht kommt auf, dass unter den sechs Gangstern ein Verräter weilt. Einer der sechs ist bereits tot, einer ist eine Weile lang verschwunden. Drei können in eine Lagerhalle flüchten, Mr. White und der schwerverletzte Mr. Orange, der in einer Blutlache liegt; später stößt Mr. Pink zu ihnen. Heftig und nervös diskutieren sie, warum der Raub fehlgeschlagen ist, verdächtigen sich gegenseitig. Der einzige vernünftige scheint Mr. White, der darüber nachdenkt, was jetzt weiter geschehen soll. Mr. White und Mr. Pink streiten, ob sie den schwerverletzten Mr. Orange in ein Krankenhaus bringen sollen. Da platzt Mr. Blonde mitten in den Streit hinein und führt Mr. White und Mr. Pink zum Kofferraum seines Wagens. Er hat einen Polizisten, Marvin Nash (Kirk Baltz), entführt, den die drei nun in die Halle bringen und gefesselt auf einen Stuhl setzen. Als Nice Guy Eddie Mr. White und Mr. Pink holt, um die vor der Halle parkenden Autos zu verstecken, beginnt Mr. Blonde – Mr. Orange liegt blutend und bewusstlos am Boden – den Polizisten zur Musik von „Stuck in the Middle with You“ zu foltern. Die Tragödie nimmt ihren Lauf ...

    Formal ist „Reservoir Dogs“ ein klassischer „heist movie“, ein Gangsterfilm, in dem der Coup scheitert, aufgeteilt nach Vorbereitung, Durchführung und Blutbad (Rache, Katharsis) oder ähnliches zum Schluss. Tarantino verzichtet allerdings schon auf die Darstellung der Durchführung des Raubüberfalls auf das Juweliergeschäft. Lediglich die Flucht unmittelbar nach dem Coup, als Mr. Orange blutend von Mr. White im Auto weggefahren wird, deutet auf den fehlgeschlagenen Überfall hin. Auch die Vorbereitung des Coups wird lediglich in einzelnen Rückblenden ausschnittsweise gezeigt, ebenso die Vorbereitung von Mr. Orange, dem Undercover-Polizisten, auf seine Rolle als Spitzel in der bunt zusammengewürfelten Schar der Gangster.

    Das Hauptgewicht des Films liegt aber auf den Szenen in der karg ausgestatteten Lagerhalle. Diese Szenerie und die Handlung in der Lagerhalle gleichen einem Theaterstück, einem Bühnenstück also, nicht aber einem klassischen heist movie. Nicht die Vorbereitung und Durchführung der Tat stehen im Vordergrund, sondern die Folgen ihres Scheiterns. Tarantino dreht damit die klassische Reihenfolge solcher Filme auf den Kopf und setzt noch eins oben drauf: nämlich die (jedenfalls in dieser Hinsicht) völlig belanglose Anfangssequenz, in der sich die acht Männer über den Sinn von Trinkgeldern streiten. Allerdings hat diese im Verhältnis zur Dauer des Films relativ lange Anfangsszene eine durchaus wichtige Funktion: die Personen werden vorgestellt. Die Bedeutung, die den unterschiedlichen Charakteren der acht Männer zukommt, wird dem Betrachter allerdings erst in der Lagerhalle bewusst.

    Mit vier Rückblenden durchbricht Tarantino zusätzlich den klassischen heist movie, folgt allerdings trotz allem den Regeln der klassischen Tragödie, eben auf seine Weise: die erste stellt die Flucht von Mr. Pink nach dem Überfall dar (70 Sekunden); die zweite zeigt Mr. White in Cabots luxuriösem Büro, letzterer erklärt Mr. White den Job (2 Minuten); die dritte spielt ebenfalls in dem Büro, Nice Guy Eddie schlägt Mr. Blonde für die Teilnahme am Raub vor (acht Minuten); die vierte schließlich – ganze 23 Minuten lang – zeigt die Vorbereitungen Freddys (Mr. Orange) auf seine Undercover-Tätigkeit. Diese Rückblende ist eine fast schon eigene Geschichte in der Geschichte und nimmt immerhin ein Viertel der Länge des Films ein. Sie unterteilt sich wiederum in drei Teile: Einschleusen von Freddy in Cabots Gang, direkte Vorbereitungen des Coups und Flucht von White, Orange und Brown nach dem Coup. Auch diese Rückblende ist wiederum mit Rückblenden versehen, u.a. mit der Szene, in der sich Freddy mit einer Tasche voll Stoff in eine Herrentoilette begibt, wo sich vier Polizisten und ein Polizeihund befinden.

    Tarantino (Pulp Fiction) spielt also mit den Regeln des heist movie ebenso wie denen der klassischen Tragödie, ohne die formale Struktur der Tragödie jemals vollständig zu verlassen. Er realisiert sie auf seine eigene Weise. Auch Gewalt inszeniert Tarantino auf seine Weise. Die Szene, in der der Polizist Marvin Nash von Mr. Blonde gefoltert wird, ist nicht gewalttätiger als viele Szenen in Kriegsfilmen, Thrillern u.ä., und trotzdem wird ihr unterstellt, sie verherrliche Gewalt. Wer die Szene jemals gesehen hat, kann das nicht ernsthaft behaupten, zumal das Abschneiden des Ohrs nicht gezeigt wird. Wo hier die Sympathien liegen, ist eindeutig: bei Nash, nicht bei Mr. Blonde, der im übrigen wenig später die Quittung für seine Folterung erhält. An dieser Szene ist nichts Amüsantes, Lustiges, im Gegenteil, sie verstört, der sadistische Mr. Blonde schreckt ab, Nash ist derjenige, mit dem man mitfühlt, obwohl man weiß, dass er keine Chance hat zu überleben [1].

    „Reservoir Dogs“ ist ein hoch moralischer Film. Verrat beispielsweise wird nicht geduldet. Es geht um Loyalität und Erlösung, aber auch um die Fadenscheinigkeit und das Scheitern dieses ethischen Kodex in einem bestimmten Kontext. Selbst Mr. White, der einem menschlich am nächsten steht, duldet keinen Verrat. Mr. White mag Mr. Orange, man könnte sogar sagen, zwischen beiden herrscht so etwas wie väterliche Freundschaft. Als Mr. Orange am Ende gesteht, ein Spitzel zu sein, greift Mr. White allerdings zur Waffe. Verrat wird bestraft, weil Vertrauen, hier sogar ein leichter Anflug von Freundschaft oder zumindest Sympathie missbraucht wurde. In diesem Kontext bedeutet Strafe immer Tod. Das führt Tarantino auf eindrückliche Weise vor. Keiner der Gangster überlebt. Und auch Freddy muss sterben. Denn er hat sich auf diesen Kontext eingelassen – man mag das für ein „Berufsrisiko“ halten oder für etwas anderes. Mr. White – ein eiskalter Gangster, der keine Skrupel hat, ein ganzes Magazin und mehr auf ein Polizeiauto abzufeuern – erweist sich in diesem moralischen System als unbescholtenster Mann unter allen. „Reservoir Dogs“ ist formal – trotz der bewussten Brüche und Tendenzen gegen die Regeln des Dramas und des heist movie – eine klassische Tragödie. Und inhaltlich ebenso. Der Tod steht als Endpunkt in einem moralischen System, in dem Loyalität alles ist und deren Verletzung unausweichliche Konsequenzen mit sich bringt. Shakespeare inszenierte in dieser Hinsicht nichts anderes.

    [1] Vgl. die hervorragende Analyse zu diesem Film, auf die ich mich hier weitgehend stützen konnte, von Robert Fischer, in: Fischer / Korte / Seeßlen: Quentin Tarantino, Berlin 2000, S. 71-96

    Möchtest Du weitere Kritiken ansehen?
    Das könnte dich auch interessieren
    Back to Top