Heutzutage macht Hollywood-Urgestein Ridley Scott Filme, die zwar stilistisch einwandfrei daherkommen und manchmal auch für Oscars taugen, aber dennoch filmhistorisch nicht wirklich der Rede wert sind (Gladiator, Hannibal, Black Hawk Down etc. gehören alle in diese Kategorie). Doch aus der Filmgeschichte ist er aufgrund früherer Glanzleistungen nicht wegzudenken: Seine beiden Meilensteine Alien und Blade Runner, welche bis heute die Filmästhetik inspirieren (zum Beispiel David Finchers Sieben), haben für die Filmwissenschaft einen Rang, der vergleichbar mit dem des „Faust“ oder der „Buddenbrooks“ für die Germanisten ist – und das aus gutem Grund. Nur ganz tollkühne Kritiker bezweifeln die Größe und den Einfluss der beiden thematisch und stilistisch aufeinander bezogenen Filme. Dass Scott mit „Thelma & Louise“ einen lupenreinen Klassiker-Hattrick hingelegt hat, wird allerdings – völlig zu Unrecht – immer mal wieder angezweifelt. Warum „Thelma & Louise“ ebenfalls ein Klassiker ist? Deswegen:
Verpackt als Road Movie erzählt der Film die Geschichte zweier guter Freundinnen, die zunächst recht verschieden sind, sich ergänzen, und im Verlauf der Handlung unter dem psychischen Druck einer Extremsituation immer ähnlicher werden. Thelma (Geena Davis) lebt völlig unterdrückt unter der Fuchtel ihres tyrannischen Ehemannes (Christopher McDonald), der absoluten Hassfigur des Films. Scott genügt eine Szene, nämlich die am Anfang in der Küche, um dem Betrachter das Kraftverhältnis zwischen Ehemann und –frau nachdrücklich einzubläuen. Es gibt keine weitere Szene zwischen Thelma und ihrem Gatten, und trotzdem weiß der Zuschauer die ganze Zeit, dass diese Ehe einer Vorstufe zur Hölle gleich kommt. Louise hingegen (Susan Sarandon) wird – ebenfalls bei ihrem ersten Auftritt – als selbstbewusste, schlagfertige und durch und durch emanzipierte Frau eingeführt. Sie ist es, die Thelma zu einem gemeinsamen Wochenendausflug überredet (auch ohne, dass Thelma ihren Mann um Erlaubnis bittet), welcher auch prompt in einem 66er Thunderbird angetreten wird. Dass Thelma „für alle Fälle“ die Pistole ihres Anvertrauten mitnimmt, wird fatale Folgen haben. Denn ein Vergewaltigungsversuch führt in Verbindung mit der Waffe zu einem Mord im Affekt und die beiden Frauen sitzen so richtig in der Scheiße. Und reiten sich durch unbedachte Handlungen immer weiter rein.
Das liegt zu einem Teil, aber keineswegs gänzlich, an Männern. Oft wird „Thelma & Louise“ vorgeworfen, er sei zu eindimensional in seiner Zeichnung der männlichen Figuren. Aber das stimmt nicht: Neben den ganzen fiesen Männern (Ehemann, Vergewaltiger) gibt es auch welche, die einfach nur dumm sind (ohne fies zu sein, wie etwa der Trucker), welche die sehr sympathisch sind (Harvey Keitel als Polizist, Michael Madsen als Freund von Louise) und welche, die ambivalent gezeichnet werden (Brad Pitt als trampender, charismatischer Ganove). Ridley Scotts Road Movie als per se männerfeindlich, und daher als feministischen Schinken (so gelesen) zu bezeichnen, ist also ein Einwand ohne Hand und Fuß. Denn auch die unzähligen kleinen Gastauftritte, etwa der alte Mann auf der Veranda, der junge Polizist oder der kiffende Biker haben nichts an sich, was als Feindbild taugen würde. Und selbst dem tyrannischen Ehemann wird gegen Ende in einer kleinen, dennoch eindrücklichen Szene die Fähigkeit zu Gefühlen zugestanden. Letztlich liegt es in erster Linie an Fehlentscheidungen und –Einschätzungen der Frauen, dass sie sich immer mehr verstricken. Der Eindruck, dass hier Männer an allem schuld sind, mag entstehen, weil außer Thelma und Louise nur eine weibliche Nebenrolle, die der Kellnerin, mit Text bedacht worden ist. Demnach werden die beiden Protagonistinnen zwar in einer „Männerwelt“ dargestellt, das Auto setzen sie aber aus eigenem Antrieb gegen die Wand (beziehungsweise in den Grand Canyon).
Am Ende, vor ihrem berühmten Ableben (welches es bis zu den „Simpsons“ geschafft hat), haben sie einiges auf dem Kerbholz: einen Mord, einen Raubüberfall, das Einsperren eines Polizisten in einen Kofferraum und das „in die Luft jagen“ eines Trucks. Und trotzdem haben sie sich nicht wirklich etwas zu Schulden kommen lassen. Dass die Polizei (nicht: die Männer) die Umstände, in denen die Frauen handeln (abgesehen natürlich von Harvey Keitel) nicht sieht, ist auch ein Thema des Films. In erster Linie geht es aber um die Entwicklung der beiden Frauen, vor allem um die Thelmas vom naiven Mädchen zur gemachten Frau des Typs „Louise“, die aus eigenem Antrieb vonstatten geht. Und dass Ridley Scott diese charakterliche Reise nicht totpsychologisiert, sondern vieles nur andeutet (wenn auch recht deutlich, wie „die Sache in Texas“), ist eine der vielen Stärken des Films. Eine andere Stärke sind die leinwandfüllenden Landschaftsaufnahmen, die nicht nur als Schauwert an sich funktionieren, sondern auch – wie das in guten Filmen stets der Fall ist, man denke an Wenders‘ Paris, Texas – das Innenleben der Protagonisten reflektieren. Die pointierten, oft verdammt witzigen Dialogzeilen fügen sich in das gelungene Gesamtbild nahtlos ein. Dann der erfrischende Soundtrack, die stringente Art der Erzählung und die handwerklich einwandfreie Umsetzung („Thelma & Louise“ ist beispielsweise vorzüglich montiert: Als sich die Schlinge gegen Ende immer mehr zuzieht, werden auch die ermittelnden Polizisten öfter gezeigt – die Parallelmontage spitzt sich zu). Und nicht zuletzt die durchweg glänzenden Darstellerleistungen; Geena Davis spielt zwar hin und wieder etwas „over the top“, was aber nur auffällt, da alle anderen Elemente in „Thelma & Louise“ wie angegossen sind und eine Bemängelung der Leistung Davis‘ schnell als Korinthenkackerei entlarvt (auf Seite der Schauspieler sei noch Brad Pitt erwähnt, der mit seiner Rolle als zwiespältiger Kleinkrimineller gleich zu Beginn seiner Karriere zeigen durfte, dass er einer von den ganz Großen ist).
Einziger Kritikpunkt an Scotts Film, nebenbei bemerkt einer der besten und wichtigsten der Neunzigerjahre, ist seine teilweise zu überspitzte Emotionalität, die beim Finale zwar voll und ganz wirkt, gelegentlich aber ein wenig zu dick aufgetragen erscheint. Manches hätte womöglich subtiler erzählt werden können, was aus „Thelma & Louise“ aber einen gänzlich anderen Film gemacht hätte – und was gut ist, soll man ja bekanntlich einfach mal gut sein lassen.
Neben „Bis ans Ende der Welt“ von Road-Movie-Spezialist Wim Wenders („Der Himmel über Berlin“) und The Straight Story von David Lynch (Inland Empire) steht „Thelma & Louise“ als gelungener Road Movie in den Neunzigern recht solitär da; und gerade im Vergleich zu thematisch vergleichbaren Produkten der Filmindustrie, wie dem grottigen und auf stupide Art gewaltverherrlichenden „Baise moi – Fick mich!“, lässt er seine Stärke erst recht augenscheinlich werden. Ridley Scott ist ein atmosphärisch dichter, humorvoller, stimmiger und sauber inszenierter Film voller Kinomagie gelungen, der nicht zuletzt eine mitreißende Geschichte erzählt – schlicht und ergreifend ein Klassiker. Warum das so ist? Siehe oben.