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    Delicatessen
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    4,5
    hervorragend
    Delicatessen
    Von Christian Roman

    Aus dem Französischen stammend, bezeichnet der Begriff Delikatesse erlesene Dinge, die einen außergewöhnlichen Lebensgenuss bieten. Passender könnte der Titel des Spielfilmdebüts von Jean-Pierre Jeunet und Marc Caro aus dem Jahr 1991 kaum sein. „Delicatessen“, die makabere Endzeitvision der beiden Franzosen, die später mit Die Stadt der verlorenen Kinder ein ebenso düsteres wie komisches Fantasy-Drama nachlegten, findet nun wieder seinen Weg in die deutschen Kinos. Dabei lässt sich der Film nur schwer einem Genre zuordnen, geht aber am ehesten als schwarzhumorige Groteske durch, die an Skurrilität und Detailverliebtheit schwer zu überbieten ist. Ein fantastischer Leckerbissen.

    Frankreich, irgendwann in den 1950ern: Irgendetwas, vermutlich ein Krieg oder eine andere Art Katastrophe, hat die Nation in ein post-apokalyptisches Szenario gestürzt. Die Tristesse wird nur noch von einem chronischen Nahrungsmangel überschattet. Da Not aber bekanntermaßen erfinderisch macht, hat der Metzger im Erdgeschoss eines bröckeligen Mietshauses eine morbide Geschäftsidee entwickelt: Clapet (Jean-Claude Dreyfus) lockt ahnungslose Fremde mit einer Stellenausschreibung in das alte Haus, um sie dort zu saftigen Schenkeln, Schulter- und Rückenstücken zu verarbeiten und an die hungernden Nachbarn zu verschachern. Dutzende sind so schon durch den Fleischwolf gewandert, als eines Tages Louison (Dominique Pinon) in der Stadt auftaucht. Der einstige Zirkus-Clown bewirbt sich um den Posten als Hausmeister, nicht ahnend, dass seine bedeutendste Qualifikation seine Fettpölsterchen sind. Schon den fetten Braten schnuppernd, hat keiner der Hausbewohner die Rechnung mit Julie (Marie-Laure Dougnac) gemacht: Ausgerechnet die Tochter des Metzgers verguckt sich in den Neuankömmling und droht, die Wartezeit auf den nächsten Gang mit Hilfe einer vegetarischen Rebellengruppe beträchtlich zu verlängern…

    Die Filmemacher Jean-Pierre Jeunet und Marc Caro verband bereits eine enge Freundschaft, als sie Ende der 1970er begannen, gemeinsam Zeichentrick-Kurzfilme zu drehen. Jeunet hatte das Animations-Handwerk erlernt und wand sich zu diesem Zeitpunkt vermehrt Kurzfilmen zu, wodurch er schließlich den Designer Caro kennen lernte. Caro betätigte sich zunächst als Punk-Comic-Zeichner für namhafte französische Magazine. In den folgenden Jahren drehten Jeunet und Caro erste Kurzfilme, Musikvideos und Werbespots, wobei sie sich die Regie-Credits stets teilten. Dem Erfolg des gemeinsamen Kurzfilms „Foutaises“ war es schließlich zu verdanken, dass die beiden Franzosen im Jahr 1991 die 20 Millionen Francs für ihren ersten abendfüllenden Spielfilm zusammenbekamen.

    „Delicatessen“ sprüht vor visuellen und skurrilen Einfällen, was auch die Kritiker überzeugte: Allein vier Mal wurde ihr Debüt mit dem französischen Filmpreis César ausgezeichnet (für Drehbuch, Schnitt, Ausstattung sowie den Besten Erstlingsfilm). Der endgültige Durchbruch gelang Jean-Pierre Jeunet nach dem mäßigen Alien - Die Wiedergeburt allerdings erst im Alleingang mit seiner wohl persönlichsten Geschichte: Die fabelhafte Welt der Amélie avancierte zu einem der populärsten europäischen Filme des frischen Millenniums. Seinem Kompagnon Marc Caro blieb dagegen die große Solokarriere verwehrt. Erst kürzlich fiel sein Science-Fiction-Thriller Dante 01 trotz des düsteren Settings in der Presse gnadenlos durch.

    Gemeinsam sind sie eben doch stärker, das spürt der Zuschauer schon während der herrlichen Eröffnung von „Delicatessen“. Der Vorspann darf sich neben der Bond-Reihe und einigen Hitchcock-Filmen (Vertigo, Psycho) bedenkenlos zu den Originellsten seiner Art zählen. In der eineinhalb Minuten langen Sequenz huscht die Kamera über einen Arbeitsplatz, dessen peinlich genau drapiertes Gerümpel Zeuge einer untergegangen Zivilisation ist. Das Emblem eines verstaubten Fotoapparats trägt den Namen des Kameramanns Darius Khondji, vergilbte Zeitungsseiten weisen auf die Regisseure Jeunet und Caro hin, und der Namenszug des Komponisten Carlos D'Alessio findet sich auf einer antiquierten, zerbrochenen Schallplatte – ohne Schnitte oder CGI-Effekte wohlgemerkt. Diese visuelle Brillanz zieht sich durch das gesamte Werk. „Delicatessen“ überrascht den aufmerksamen Zuschauer stets aufs Neue mit einfallsreichen Details, nichts an den Kulissen scheint dem Zufall überlassen. Ebenso bemerkenswert: Darius Khondji positioniert seine Kamera oft an bizarren Orten und offenbart so die abenteuerlichsten Blickwinkel. Die Kamera windet sich mehrfach durch das verzweigte Lüftungssystem des Mietshauses, stets bemüht, den Blick auf eine weitere groteske Episode zu ermöglichen. Obwohl äußerst verspielt, wirkt der aufwändige Inszenierungsstil dabei zu keinem Zeitpunkt aufgesetzt, sondern fügt sich vielmehr hervorragend in die skurrile Rahmenhandlung ein.

    Jeunet und Caro haben sichtlich Spaß am Spiel mit den Gegensätzen. Obwohl die Existenz von Kannibalismus, der wohl primitivsten Form von menschlichem Egoismus, ein zutiefst pessimistisches Zukunftsbild zeichnet, läuft „Delicatessen“ nie Gefahr, den typisch depressiven Mustern des Endzeitfilms zu folgen. Zu skurril sind Figuren und Handlung angelegt. Der Plot ist in kleinere Episoden aufgeteilt, in denen die verschrobenen Bewohner des Mietshauses mit ihren Verrücktheiten das Zwerchfell des Zuschauers strapazieren. Oftmals verdichten sich die einzelnen Handlungsstränge zu einem grotesken Ganzen. Den sprichwörtlichen Höhepunkt erreicht die Verknüpfung der einzelnen Schauplätze in einer Szene, in der sich alle Aktivitäten der Hausbewohner dem koitalen Rhythmus der unter dem Druck zweier Liebestoller ächzenden Sprungfedern unterordnen – ein urkomisches Konzert der Skurrilitäten.

    Da das Drehbuch allein die Bewohner des Mietshauses in den Mittelpunkt rückt, kommt der Film mit nur wenigen Protagonisten aus. Jean-Pierre Jeunet und Marc Caro haben in der Vergangenheit immer wieder mit einer Reihe von Darstellern zusammengearbeitet, die auch schon in „Delicatessen“ vor der Kamera standen. Dominique Pinon (Mathilde - Eine große Liebe, Oxford Murders) etwa trat in jedem Film des Regie-Duos auf und spielte später auch in den Alleingängen von Jeunet und Caro mit. Als arbeitsloser Clown Louison, dem potentiellen Opfer der gefräßigen Bande, überzeugt der Franzose auf ganzer Linie. Sein Louison befindet sich irgendwo zwischen Melancholie und Komik. An seiner Seite verkörpert Marie-Laure Dougnac Julie, die unbeholfene, naive Tochter des Metzgers. Es macht einfach Spaß, ihr zuzuschauen. Apropos Metzger: Jean-Claude Dreyfus (Fitzcarraldo) sorgt in der Rolle des Caplet mit seiner überzogenen Mimik und Gestik sogar noch während seines Ablebens für einige Lacher.

    Fazit: Die Regisseure Jean-Pierre Jeunet und Marc Caro haben mit ihrem Spielfilmdebüt „Delicatessen“ ein grausam-schönes Fantasie-Werk geschaffen, das auch fast zwanzig Jahre später mit einer brillanten Optik, witzigen Charakteren und einer grotesken Handlung begeistert. Wer den Film damals im Kino verpasst hat, sollte dies jetzt unbedingt nachholen. Und auf die Hüften legen sich diese schmackhaften „Delicatessen“ glücklicherweise auch nicht.

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