Jean-Claude (Patrick Chesnais) ist ein alter, einsamer Gerichtsvollzieher. Gefühle gesteht er sich keine zu, und Worte macht er auch nicht mehr als unbedingt notwendig. Eingeführt wird er, wie er einer verzweifelten Frau kühl die bevorstehende Pfändung ankündigt. Dann erscheint der Filmtitel der romantischen Komödie „Man muss mich nicht lieben“, und wir haben verstanden. Doch – Vorsicht Symbolik! – Jean-Claude hat es mit dem Herzen. Sein Arzt empfiehlt ihm, Sport zu treiben. Er entscheidet sich für einen Tangokurs, der im Haus gegenüber seinem Büro stattfindet. In unbeobachteten Momenten hatte er schon mehrfach sehnsüchtig zu den Tanzenden herüber gesehen. Im Tanzkurs lernt er Francoise (Anne Consigny) kennen, eine junge Frau, die sich Jean-Claude als das kleine Mädchen vorstellt, dessen Babysitter seine Mutter war. Natürlich kann er sich nicht erinnern. Dennoch kommen sich die beiden näher. Jean-Claude taut auf, aber es gibt ein Problem: Francoise verschweigt ihm, dass sie einen Verlobten hat und kurz vor der Hochzeit steht.
Die Geschichte, die der französische Regisseur Stéphane Brizé in seinem zweiten Spielfilm erzählt, ist nicht besonders originell: Ein bisschen Darf ich bitten, ein bisschen Lost In Translation und ein paar weitere genretypische Zutaten. Der Reiz besteht im Kontrast zur Form dieser Filme. Statt Lopez-Johansson-Glamour gibt es in „Man muss mich nicht lieben“ grau-grobkörnige Sozialrealismusästhetik wie in einem Film der Brüdern Dardenne („Rossetta“) oder des deutschen Regisseurs Henner Winckler (Lucy). Wenn man das denn als Reiz des Films gelten lassen möchte. Denn was bei den Dardennes oder Winckler eine überzeugende Visualisierung des Inhalts ist, wirkt in „Man muss mich nicht lieben“ doch eher wie ein im doppelten Sinn billiger Manierismus. Manierismen können ja schön sein, wenn sie aufregend aussehen. Dieser Film ist aber manieristisch in dem Sinn, dass er besonders angestrengt uninteressant aussehen will, um – das darf man unterstellen – als sozialkritischer wahrgenommen zu werden, als er in Wahrheit ist. So etwas ist nicht schön.
Bei etwas freundlicherer Herangehensweise muss man zugestehen, dass sich Brizé ernsthaft bemüht, einem sehr schüchternen Charakter nahe zu kommen und die Tragik dieser Person darzustellen, ohne dabei das Kinopublikum gleich völlig zu deprimieren. Nur klappt es schon mit dem Hauptdarsteller nicht. Auch hier war Lost In Translation ein Einfluss: Patrick Chesnais macht uns den „französischen Bill Murray“, wie „Le Figaro“ ganz begeistert feststellte. Es fällt schwer diese Begeisterung zu teilen. Chesnais ist wahrlich kein schlechter Schauspieler, aber als Minimalmimiker nicht halb so komisch wie das Original. Chesnais schauspielerisches Vorgehen ist schon erstaunlich, denn eigentlich weiß es doch jeder: Wer versucht den coolsten Hund auf dem Schulhof nachzuahmen, wirkt dabei selber in den meisten Fällen keineswegs cool. Die Ansicht, dass sich Schüchternheit immer in bewegungslosen Gesichtszügen ausdrücke, ist im Übrigen ein Klischee. Anne Consigny soll, will und kann zum Glück keine Scarlet-Johansson-Kopie sein, und ist (trotzdem) toll. Es geht also.
Francoise’ Liebe – dieser Film erzählt eine „echte“ Liebesgeschichte, keine von einer platonischen Freundschaft - zu dem deutlich älteren schüchternen Jean-Claude erklärt sich nun nicht unbedingt von selbst. Der Film will sie aber doch irgendwie erklären. Das ist das nächste Problem. Es müssen zwei männliche Nebenfiguren aus der Klischeekrabbelkiste her, die so unmöglich sind, dass Jean-Claude daneben attraktiv wirkt. Der erste ist Francoise’ zukünftiger Ehemann, ein Lehrer und Möchtegernschriftsteller: lieb aber trottelig bis jämmerlich und mit einem tief und ehrlich empfundenen Desinteresse für seine zukünftige Frau ausgestattet – außer er braucht sie gerade als Trostspenderin. Der zweite ist ein kleiner, verlogener, lästiger, schmieriger, aufdringlicher Mensch aus dem Tanzkurs. So gesehen ist Jean-Claude natürlich die richtige Partnerwahl.
Überhaupt sind die Nebenfiguren das dritte Problem des Films. Insbesondere Jean-Claudes Vater und sein Sohn sollen so sehr tragikomisch rüberkommen, dass es die meiste Zeit nur angestrengt wirkt – das Bemühen der Schauspieler mehr als das der Figuren. In der Nebenhandlung um diese drei geht es darum, wie sich die Verklemmtheit über drei Generationen weitervererbt hat. Trotz ihres im Grunde guten Herzens waren Vater beziehungsweise Großvater nicht fähig, ihre Söhne etwas von ihrer Liebe merken zu lassen. Das ist zwar nicht völlig unglaubwürdig, aber doch ein bisschen platt dargestellt.
„Man muss mich nicht lieben“ muss man nicht hassen. Weder langweilt der Film, noch beleidigt er die Intelligenz der Zuschauer, und die Musik ist auch gut. Er hat sogar starke Momente. Wie er zum Beispiel Jean-Claudes Tätigkeit als Gerichtsvollzieher an einem Fall vom Überbringen der letzten Frist bis zur Wohnungspfändung darstellt, hebt ihn zweifellos aus der Masse mittelmäßiger Filme hervor. Der ganz undramatische Verlauf dieser persönlichen Katastrophe, die Routine, mit der die Pfändung abgewickelt wird, die glaubwürdige Abgestumpftheit der Akteure, das ist von einer Trostlosigkeit, die an die Nieren geht. Betrachtet man den Film als Ganzes, überwiegt dagegen der Eindruck, dass seine Geschichte schon zu oft und zu oft auch schon besser erzählt wurde.