Für jedes Problem gibt es eine Lösung. Sagt man(n). Doch bevor man eine theoretisch machbare Lösung oder einen Weg dorthin finden kann, will erstmal das Problem genau erkannt sein, den Unterschied zwischen theoretischer Möglichkeit und praktischer Realisierbarkeit dabei einmal ganz außen vor gelassen. Mit solchen Problemen und Lösungen und den Problemen mit den Lösungen des Protagonisten Santiago (Pietro Sibille) beschäftigt sich auch das psychoanalytische und sozialkritische Drama „Días de Santiago“ von Josué Mendez.
Nachdem er jahrelang der peruanischen Armee seine Dienste im Kampf gegen Terroristen und Drogenhändler zu Verfügung gestellt hat, kehrt Santiago mit Beginn der Geschichte zurück in seine Heimatstadt Peru, um mit sich ins Reine zu kommen und ein ehrliches Leben zu führen. Dieses Vorhaben soll sich für ihn jedoch sehr bald aus einer Vielzahl an Gründen als unerreichbares Ideal entpuppen: Bereits die erste Szene, die Begegnung zwischen dem Kriegsrückkehrer und seiner Frau, beschwört eine graue Vorahnung herauf. Nicht zuletzt, weil Mendez bereits hier mit der eisernen Regel vom Blickverbot in die Kamera bricht, berührt er den Zuschauer emotional mit der Unmittelbarkeit des desillusionierten Ausdrucks der Augen seiner Darsteller und einer unruhigen Kameraführung.
Ansonsten hält sich „Díaz de Santiago“ mit dem Gefühlsholzhammer, von wenigen Ausnahmen abgesehen, dezent zurück. Vielmehr ist es die Gesamtheit der Enttäuschungen und das Gefühl von Perspektivlosigkeit, die Hauptfigur und Zuschauer treffen. Denn paradoxerweise erweisen sich Gesellschaft, die wir in erster Assoziation als sinn- und stabilitätsstiftendes Gebilde verstehen würden, und Krieg, als Schauplatz größtmöglicher Instabilität, Unsicherheit und Angst, für Santiago als ihr jeweiliges Gegenteil. Über Jahre hinweg führte er ein geregeltes und militärisch diszipliniertes Leben, das ihn mit einfachen Ordnungen und Hierarchien, der Unterscheidung zwischen Freund und Feind und vor allem auch mit Macht ausstattete. Doch all diese Kategorien werden in der Heimat Lima entkräftet oder unnütz und stehen Santiago selbst im Weg. So wird die ehrliche Suche eines intelligenten jungen Mannes nach Arbeit und einem geregelten Leben zu einem ausweglosen Spießrutenlauf – die Gesellschaft und die Familie, in die er zurückkehrt, scheinen weder Platz, noch Geld, noch Anerkennung für einen Vaterlandskämpfer übrig zu haben. So versucht er schließlich als Taxifahrer ein Studium und den Weg ins Freie zu finanzieren.
Nicht nur den Machtstrukturen in seiner zerrütteten Familie, in der der Vater das Sagen hat, kann sich Santiago unterordnen. Vor allem auch die Frauen, denen Regisseur Mendez eine ganz besondere Rolle zuordnet, haben sein Weltbild überholt. Denn abgesehen von der eigenen unterwürfigen Mutter, die der vorangegangen Generation angehört, sieht er sich mit einer Reihe junger, selbstbewusster, sexuell aggressiver und (auch finanziell) unabhängiger Frauen konfrontiert. Nachdem er innerhalb kürzester Zeit seine eigene Ehe zerstört, findet er auch zu seinen Kommilitoninnen keinen Zugang, weil sie ihm keinerlei Angriffsfläche für seinen Beschützerkomplex bieten. So dauert es nicht lange, bis das Gefühl von Nutzlosigkeit und Überforderung einen im Grunde liebevollen Mann, der seine Schwägerin vor seinem gewalttätigen Bruder beschützen möchte, bei den kleinsten Auslösern selbst der Aggressivität anheim fallen lässt.
Hauptdarsteller Pietro Sibille spielt die komplexe Rolle des Santiago dabei mit einer großen Überzeugungskraft. Der verzweifelte Existenzkampf und der erbitterte Versuch, unter widrigen Umständen ein anständiges Leben zu führen, spiegeln sich in Gestik und Mimik ebenso wider, wie die immer wieder aufkommenden Automatismen und Verhaltensmuster eines Soldaten, der tagein tagaus nur durch eisernes Einhalten eingetrichterter Regeln überleben kann. Die Verwirrung, die sich im Kopf des Heimgekehrten abspielt, reflektiert Mendez auch mit einem filmischen Mittel, indem sich in unregelmäßigen Abständen schwarz-weiße und farbige Einstellungen abwechseln. Durch zusätzliche Szenen, die nicht das reale Leben, sondern Santiagos Wunschvorstellung, und solche, die ihn nachts einsam am Strand beim heimlichen Ausleben militärischer Übungen als eine Art von Ventil zeigen, werden eindeutige Zuordnungen zu Imagination und Realität, sowie chronologische Abläufe empfindlich gestört. Dennoch wirken diese Stilmittel manchmal etwas unmotiviert und werfen die Frage auf, warum gerade hier und jetzt. Auch sonst ist der Einsatz der Kamera in „Días de Santiago“ bewusst eher dokumentarisch bis unspektakulär gehalten, wenngleich einige, insbesondere durch den Einsatz von leuchtenden Farben schon romantisch anmutende Szenen am Strand das Soldatenleben rückblickend verklären und so im Kontrast stehen zum ärmlichen und nüchtern inszenierten Leben in Lima.
Alles in allem exportiert Peru mit seinem jüngsten Festivalliebling ein gut gespieltes Sozialdrama, das sich mit den psychischen Folgen des Kriegs, der veränderten Rolle der Frau, innerfamiliärer Gewalt, Beschaffungskriminalität und vielen weiteren Themen auseinandersetzt. Dies geschieht auf eine Weise, die intelligent und authentisch wirkt und ganz nebenbei dem popcornkauenden Westeuropäer, der aus seinem bequemen Kinosessel das Scheitern einer Existenz betrachtet (und sich vorhin noch über den gestiegenen Preis von drei Euro für eine Cola mockiert hat, um ihn dann natürlich doch zahlen), vor Augen führt, dass das viel zitierte Klagen auf hohem Niveau tatsächlich ein wenig unangemessen sein könnte. Zwar fehlt für das Prädikat „Meisterwerk“ der entscheidende Pfiff an Originalität und filmischer Konsistenz, doch liegt hier ohne Zweifel ein sehenswerter Film und erneuter Beleg dafür vor, dass wir viel öfter ein Auge auf stiefmütterlich behandelte Filmländer werfen sollten: Gutes Kino gibt es überall.