Wer einen Blick in die Galerie der einprägsamsten Szenen der Filmgeschichte wirft, sieht Chaplin mit einem Globus tanzen, einen US-Major eine Bombe reiten, oder De Niro im Zwiegespräch mit seinem Spiegelbild. „Cinema Paradiso“ ergänzte diese glorreiche Riege um eine ergreifende Szene endlos aneinandergereihter Filmküsse. Diese ist jedoch bei weitem nicht das einzige Meisterhafte an dem Kinodebüt von Giuseppe Tornatores (Der Mann, der die Sterne macht, „Die Legende vom Ozeanpianisten“, Die Unbekannte). Tornatore, der auch das Drehbuch schrieb, versteht es auf begnadete Weise, die Geschichte des Kinos mit der eines kleinen sizilianischen Dorfes zu verquicken und dabei eine innige und außergewöhnliche Freundschaft in lebhaften Farben und warmen Dialogen zu schildern. Mit seinem erst zweiten Spielfilm gewann der noch junge Regisseur 1989 den Oscar für den besten nicht-englischsprachigen Film. „Cinema Paradiso“ trug nicht unerheblich zur Revitalisierung der italienischen Filmlandschaft bei und hat somit wohl auch einen kleinen Anteil an den Erfolgen der späteren italienischen Oscar-Gewinner „Mediterraneo“ (1991) und „Das Leben ist schön“ (1997).
In einem kleinen sizilianischen Dorf dreht sich Mitte der 1940er alles um Kirche und Kino. Auch der kleine Toto (Salvatore Cascio) ist zwischen der drögen Ministrantenpflicht und seiner Begeisterung zum Film hin und her gerissen. In jeder freien Minute stiehlt er sich in die Vorführkabine des Cinema Paradiso und knüpft so eine tiefe Freundschaft zu dem alten Projektionisten Alfredo (Philippe Noiret), der ihn auch das Handwerk des Filmvorführens lehrt. Als Alfredo bei einem Brand sein Augenlicht verliert, wird Toto zu seinem Nachfolger. Die Jahre vergehen, Toto (Marco Leonardi) verliebt sich, dreht erste kleine Filmchen mit der eigenen Kamera, muss zum Militär und bekommt von Alfredo – meist über Filmzitate – die Welt und die Frauen erklärt. Bis Alfredo Toto das Versprechen abnimmt, er solle das Dorf verlassen und nie wieder zurückkommen. Toto kehrt dem Dorf den Rücken, bis ihn 30 Jahre später die Nachricht vom Tod Alfredos ereilt …
„Cinema Paradiso“ erzählt viele Geschichten, die jedoch allesamt Teil einer großen sind: der des Kinos. Es gibt kaum einen Film, der mit solcher Verve seine Liebe zum Kino kundtut und diese Zuneigung so ideenreich bebildert und erzählt. Giuseppe Tornatore preist das Kino als sozialen Treffpunkt, an dem Handel getrieben, geschlafen, geliebt, gestorben, gemordet oder gestillt wird, einen Ort der Aktion, nicht der Passivität. Wo die Kleinen das Erwachsensein proben und die Großen zu Kindern werden. Das Kino des kleinen Dorfes ist ein Ort des Austauschs von Neuigkeiten und Informationen, ein Ort der Kommunikation untereinander wie auch mit der Leinwand.
Oft schon wurde die Leinwand als „Fenster zur großen Welt“ beschrieben, doch traf es selten so den Kern. Zum einen weil der Film einen dörflichen Kosmos beleuchtet, in dem der Pfarrer als oberste moralische Instanz fungiert und Kino entsprechend (trotz der Zensurmaßnahmen des Pfarrers) ein Stück der verbotenen Frucht präsentiert. Andererseits weil für die Insel Sizilien das Kino als Ort der Träume eine noch bedeutendere Rolle spielt als anderswo. Folglich steht das Cinema Paradiso am Marktplatz und macht der Kirche ihren Rang als Lebensmittelpunkt des Dorfes streitig.
„Cinema Paradiso“ ist nebenbei auch eine kleine Revue-Werkschau der Kinogrößen der 1940er und 1950er. Visconti, Gabin, Wayne oder Chaplin – ihnen ist der Enthusiasmus des Dorfes gewiss. Tornatore erzählt von einer Zeit des Kinos, als Fantasie zur Vervollständigung der Geschichte von Nöten war, fern vom überdeutlichen Ausbuchstabieren späterer Filme. Exemplarisch hierfür ist eine kurze Szene mit dem kleinen Toto, in der dieser sich, vor einer Öllampe sitzend, Geschichten zu einzelnen Filmbildern ausmalt. „Cinema Paradiso“ skizziert das Kino nahe am Ideal – als Traumkatalysator, Flügel der Fantasie, als Anstifter. Dabei erweist sich Tornatore als Romantiker, wohingegen er mit seiner Darstellung der Klassenschranken und des Nachkriegselends den Neorealismus streift. Dies tut er gleichermaßen unaufdringlich. Der Strumpfverkäufer, die Arbeitssuchenden, die zerbombten Häuser oder die politischen Spannungen sind eben ganz einfach ein Teil des Dorfes.
Ein außerordentliches Gespür zeigt Tornatore in der Art, wie er dem Dorf Leben einhaucht und einen eigenständigen Charakter verleiht. Über die diversen Typen, die das Cinema Paradiso aus den unterschiedlichsten Gründen bevölkern und somit auch die Eigenheiten des Dorfes ausmachen, fängt Tornatore das Ambiente und das Lebensgefühl immer wieder in ruhigen Kamerabewegungen sowie kurzen Einstellungen und Episoden ein, die ein stimmiges Ganzes von Zeit und Ort formen. Der große Ennio Morricone liefert einen angenehm zurückhaltenden Score, der hier und da auf die Tränendrüse drückt, wie es die Handlung verlangt, und ansonsten die Leichtigkeit des Films in musikalische Beschwingtheit übersetzt.
„Cinema Paradiso“ umspannt einen Zeitraum von 40 Jahren und so gibt es neben dem wunderbar kauzigen Philippe Noiret („Zazie“, „Das große Fressen“) als Alfredo insgesamt drei Toto-Darsteller. Es ist das große Glück des Films, dass der Charakter mit dem kleinen aufgeweckten Lausebuben, gespielt von Salvatore Cascio, derart sympathisch eingeführt wird, dass er die Zuschauer bereits mit seinem ersten Auftritt auf seine Seite zieht. Dies ist zu betonen, weil Marco Leonardi Irgendwann in Mexiko im Folgenden dem Teenager Toto kaum Tiefe zu verleihen mag und der Film deshalb im zweiten Drittel ein wenig an Esprit einbüßt, da die Chemie zwischen Toto und Alfredo nicht mehr so stimmt, wie noch zuvor.
„Cinema Paradiso“ ist eine einzige große Liebesgeschichte. Dass diese, was die Charaktere betrifft, viel ambivalenter angelegt war, verdeutlichen in Gänze zum einen die um 34 Minuten längere italienische Kinoversion sowie der vor einigen Jahren erschienene Director’s Cut. Dem erwachsenen Toto, gespielt von Jacques Perrin, dessen Erinnerung die Filmbilder entspringen, wird in diesem mehr Raum zugestanden wie auch seiner Liebe zu Elena. Alfredos Charakter erlangt dabei bittersüße Züge, denn viel stärker als in der deutschen Schnittfassung kommt seine Liebesskepsis zum Vorschein und somit seine „Teilschuld“ an der Unfähigkeit des erwachsenen Toto zur sesshaften Liebe. Hier offenbart sich das vielleicht Erstaunlichste: Der durchweg berührende „Cinema Paradiso“ wartet in keinster Weise mit irgendwelchen Liebessentimentalitäten auf.
„Das Leben ist nicht, wie du es im Kino kennst. Das Leben ist viel schwieriger.“
Der Film, Gewinner des Großen Preises der Jury in Cannes 1989, ist eine Ode an das Kino, von unsagbarer Unbeschwertheit, ohne auch nur in Gefahr zu geraten, in seichte Gewässer abzudriften. Stets findet „Cinema Paradiso“ die goldene Mitte zwischen leichtem Slapstick und bewegender Tragik. So wie der kleine Toto erwachsen wird, wächst auch das Kino heran, und beide verlieren ihre Naivität und Unschuld. Tornatores „Cinema Paradiso“ hat dem Kino zumindest ein Stückchen dieser naiven Leichtigkeit zurückerobert. Letztlich gelingt es ihm, seinem Film das mitzugeben, was er selbst dem Kino an Bedeutung zumisst. Ein größeres Lob ist kaum vorstellbar.