„...aber ich bin mir nicht sicher, ob ich es aushalten würde“.
Dieser Satz, den man auf dem Cover findet, bringt die gesamte Palette der Emotionen, die dieses Sozialdrama beim Zuschauer hervorruft, auf den Punkt.
Ich habe zwar versucht, so wenig wie möglich von der Handlung zu verraten; trotzdem läßt es sich natürlich nicht ganz vermeiden, daß bei einer Kritik leichte Spoiler vorkommen, und wer den Film völlig unvoreingenommen sehen will, sollte nicht weiterlesen.
Ich persönlich kann mich an keinen Film erinnern, der mich dermaßen berührt und mitgenommen hätte; der Zuschauer fühlt sich danach sprichwörtlich wie von einem Bulldozer überrollt und er sollte sich darauf einstellen, daß ihm die Geschehnisse auch noch am nächsten Tag auf das Gemüt drücken.
Schon nach dem Intro (das eigentlich den Schluß vorwegnimmt), in dem Lilja zum - leider - perfekt passenden Soundtrack von Rammstein verzweifelt durch die Gegend hetzt, um schließlich auf einer Autobahnbrücke stehenzubleiben, wird klar: es bahnt sich Unheil an; die einzigen Fragen, die bis zum Schluß offen bleiben, sind: wie kommt sie in diese Situation? Und: springt sie oder springt sie nicht?
Obwohl sich der Zuschauer also bereits nach 3 Minuten denken kann, in welchen Bahnen sich der Film bewegt, wird dadurch mE nicht dessen Qualität geschmälert, da es ihm nicht einfach nur um das Abspulen einer spannenden Story geht.
Seine Stärken liegen vielmehr in der Art des Erzählens, im Aufzeigen von Entwicklungen und im Nachzeichnen der (mehr oder minder) nachvollziehbaren Handlungen Liljas. Der Zuschauer erlebt sehenden Auges, wie sie in ihr Verderben rennt und wie ihre (und auch seine) Hoffnungen langsam, aber unerbittlich zermalmt werden.
Daß er sich hierbei zeitweise mitten ins Geschehen versetzt fühlt und nicht unbeteiligt zurücklehnen kann, liegt einerseits am oftmaligen Gebrauch einer Handkamera, die die Geschehnisse im Dramastil einfängt, andererseits am semi-dokumentarischen Charakter des Films mit seinen ungeschönten Bildern aus der Umgebung Liljas, die ja eigentlich nur stellvertretend für die anonymen „Liljas“ auf dieser Welt steht:
Betroffene haben dem Regisseur Lukas Moodysson auch bestätigt (s.u., Interview mit dem Regisseur), daß die Geschichte absolut realistisch sei und sogar noch härter gezeichnet hätte werden können: Lilja hätte z.B. für 10$ verkauft werden können anstatt einfach von ihrer Mutter verlassen zu werden.
Trotz der sensiblen Thematik hat es Moodysson verstanden, die Protagonistin in all ihrem Leid nicht bloßzustellen; es wird zwar ihre Seele offengelegt, aber nicht ihr Körper, und so wird man explizite Sexszenen auch vergeblich suchen (die Männer, die sich keuchend über Lilja hermachen, lagen übrigens in Wirklichkeit auf dem Kameramann bzw. später auf dem Regisseur, weil der Kameramann später der psychischen Belastung durch die physische Nähe zu den Männern nicht mehr gewachsen war).
Auf der anderen Seite gerät der Film aber auch niemals in Gefahr, in eine sülzige Klischeestory abzudriften (ich frage mich, was aus der Story geworden wäre, wäre sie von einem Hollywoodregisseur umgesetzt worden): abgesehen von einigen poetischen und auch melancholischen Bildern wird größtenteils schnörkellos und unsentimental erzählt und die Laiendarsteller haben sicherlich einen großen Anteil daran, daß die Geschichte absolut authentisch auf den Zuschauer wirkt.
Die seichte Pop- und Technomusik, die immer wieder eingeblendet wird, ist absolut stimmig und bringt - vor dem Hintergrund der Ereignisse - den Zynismus, wie in der zur Spitze getriebenen „freien“ Marktwirtschaft mit der Ware Mensch umgegangen wird, hervorragend zur Geltung.
Angesichts der deprimierenden Geschichte wird man sich natürlich fragen: ist da denn nichts Positives in dem ganzen Film?
Bei der Antwort auf diese Frage werden sich die Zuschauer in zwei Lager spalten; je nachdem, ob sie mit surrealen Bilderwelten und dem von Moodysson angebotenen Schluß etwas anfangen können oder nicht. Es möge also jeder die Antwort selbst finden.
Die Bonus-DVD enthält übrigens ein 93-minütiges Interview mit dem Regisseur, in dem er sich zur Entstehungsgeschichte des Films äußert und auch seine Sicht auf den Film darlegt.
Diesem Interview kann man einige interessante Informationen entnehmen, z.B. daß der Film von Männern und Frauen (aus seiner Sicht) offenbar unterschiedlich bewertet wird oder die Szene auf der Autobahnbrücke durch eine tatsächliche Begebenheit motiviert war. Leider scheint sich der Regisseur nur schlecht verkaufen zu können (eine Ironie der Geschichte anhand der Thematik) und so kommt das Interview auch nur schleppend voran; was die Qualität des Films natürlich in keiner Weise schmälert: für mich ist dieser Film ein Meisterwerk und wird für lange Zeit zu meinen persönlichen Top 10 gehören.
"Lilja 4-ever ist ein Film über das Verlangen, woanders zu sein, alles zurückzulassen, darüber, allein zurückgelassen zu werden, über reiche Leute, die glauben, dass man alles kaufen kann, über arme Leute, die dazu gezwungen sind, ihren ganzen Besitz zu verkaufen (außer ihrem Herzen), über Dinge, die weit entfernt passieren und über Dinge, die auf der Strasse, in der wir leben, passieren..." (Lukas Moodysson)