„Am Vorderteil des Schiffes hing ein langes Tau herab. Mit Händen und Füßen ruderten wir darauf zu, um es zu erfassen. Endlich glückte es. Noch einmal erhob ich meine Stimme, aber immer blieb es still auf dem Schiff. Da klimmten wir an dem Tau hinauf, ich als der Jüngste voran. Aber Entsetzen! Welches Schauspiel stellte sich meinem Auge dar, als ich das Verdeck betrat! Der Boden war mit Blut gerötet, zwanzig bis dreißig Leichname in türkischen Kleidern lagen auf dem Boden, am mittleren Mastbaum stand ein Mann, reich gekleidet, den Säbel in der Hand, aber das Gesicht war blaß und verzerrt, durch die Stirn ging ein großer Nagel, der ihn an den Mastbaum heftete, auch er war tot. Schrecken fesselte meine Schritte, ich wagte kaum zu atmen.“
So bildreich beschreibt Wilhelm Hauff, der große und leider viel zu früh verstorbene Dichter und Erzähler der Romantik, die schauerlichen Entdeckungen auf einem herrenlos im indischen Ozean dahintreibenden Segelschiff. Seine 1827 verfasste „Geschichte vom Gespensterschiff“ gehört sicherlich zu den berühmtesten Abhandlungen des Themas vom Geisterschiff, welches zu allen Zeiten die Phantasie von Romanciers, Seeleuten und Leuchtturmwärtern gleichermaßen beflügelt hat. Noch heute wird unter Schiffsbesatzungen das unheimliche Auftauchen der herrenlosen Mary Celeste 1872 vor Gibraltar mit andächtigem Raunen kolportiert, und der Fliegende Holländer brachte es als wohl berühmtester Kapitän eines Gespensterschiffes zu diversen Bühnenehren. Den diversen literarischen Vorbildern wird der neueste Kino-Output zum Thema jedoch kaum gerecht: Steve Becks „Ghost Ship“ aus der von Robert Zemeckis und Joel Silver gegründeten Gruselschmiede Dark Castle erweist sich nach einem wirklich furiosen Auftakt als reichlich altersschwacher und lustlos dahindümpelnder Schleppkahn.
Dabei weckt wie so oft ein Intro mit einer im wahrsten Sinne des Wortes einschneidenden Idee zunächst hohe Erwartungen: An Bord des Luxusliners „Andrea Graza“ im Jahre 1962 ergehen sich die hochgradig gutsituierten Passagiere bei Jazzmusik und Longdrinks in gediegen luxuriöser Zeitverschwendung. Allein ein kleines, etwa zehnjähriges Mädchen sitzt teilnahmslos dabei. „I am so boring“ verrät sie einem milde lächelnden Steward mit Hilfe eines Spielzeugs, und angesichts des jenseitigen Blicks des Mädchens ahnt der Zuschauer bereits, dass die epikureisch-gelöste Atmosphäre wohl kaum lange anhalten wird. Als der Kapitän das Dampfers die junge Dame zum Tanz auffordert, hellen sich ihre Züge kurzzeitig auf, doch dann lässt Regisseur Steve Beck mit einem kurzen Aufblitzen von Metall das Kerzenlicht verlöschen – den Bruchteil einer Sekunde später ist das Mädchen die einzige Überlebende der Festgesellschaft. Ein atemberaubender Start, deutlich inspiriert von Vincenzo Natalis „Cube“, welcher jedoch die eingeschlagene bizarr-blutige Marschrichtung in keinster Weise aufrechtzuerhalten vermag, sondern vielmehr alsbald in uralt-bekannteste Klischeegewässer einbiegt. Vierzig Jahre später entdeckt ein Marineflieger den herrenlos im Ozean dahinschippernden Lusxusliner und engagiert ein Bergungsteam, um auf dem Kahn nach dem Rechten und gegebenenfalls nach dem ein oder anderen lukrativen Souvenir zu schauen. Kaum auf dem Schiff angekommen, macht das Seegefährt des Bergungsteams einen Abgang in die Tiefe, und der unfreiwillig auf den Dampfer umquartierte Trupp muss feststellen, dass seine neue Behausung zwar menschenleer, mitnichten aber verlassen ist. Was dann folgt, ist der nun wirklich unendlich abgedroschene, ennuyante, ebenso eintönige wie vorhersehbare Zehn-kleine-Negerlein-Abzählreim einer zusammengewürfelten Crew in einer fremden, lebensfeindlichen Umgebung. Schon Walt Disneys „The black hole“ verwendete 1980 dieses Motiv, als eine Gruppe von Weltraumforschern das über einem schwarzen Loch dahintrudelnde Raumschiff Cygnus entdeckte. Siebzehn Jahre später holte der Brite Paul Anderson das exakt gleiche Motiv erneut in den Weltraum: In „Event Horizon“ wurde ein interstellares Bergungsteam auf einem aus einem schwarzen Loch zurückgekehrten Raumschiff mit allerlei erschröcklichen Erscheinungen und Visionen konfrontiert. Nicht so blutig, aber ansonsten kaum anders gestaltete sich die Handlung von Barry Levinsons „Sphere“ nach dem gleichnamigen Roman von Michael Chrichton.
Und speziell von Andersons Film, der ja selbst schon diverse Versatzstücke ähnlich gearteter Werke verwertet hatte, klauen Regisseur Steve Beck und Drehbuchautor Mark Hanlon so dreist und unverfroren, dass sich der Zuschauer ob der permanenten Déjà-vú-Eindrücke ein ums andere Mal ungläubig die Augen reibt. Phasenweise sind komplette Szenenabfolgen, der spektakuläre Verlust des eigenen Schiffes sowie die Art und Weise, wie die einzelnen Crewmitglieder des Bergungsschiffes in den verrosteten Deckkatakomben des Ozeanriesen um die Ecke gebracht werden, aus „Event Horizon“ abgekupfert und nur statt im Weltraum in der Beringsee verkompostiert. Exakt wie im Anderson-Film werden die Havaristen an Bord des Geisterschiffes mit ihren persönlichen Gespenstern und intimsten Seelenängsten konfrontiert, was zum Teil bizarr-komische Züge annimmt, wenn beispielsweise Gabriel Byrne als trockener Ex-Alkoholiker von einer Geistscheinung einen Drink angeboten bekommt. Auch Kubricks „Shining“ dient den Ghost-Schiffern als Steinbruch angestaubter Grusel-Motive. Nach Kräften geklaut wird überdies bei Stephen Sommers „Deep Rising“, einer niedlichen, aber unglaublich trashigen Variante des Themas, in der es sich ein schleimiger Riesenkrake nebst Nachwuchs im Bauch eines Luxusdampfers gemütlich macht, was – genau wie in „Ghost Ship“ – den Angehörigen eines Bergungstrupps nebst einigen schießwütigen Piraten ein bisschen zu spät auffällt. Zugegeben: Ein paar ansprechend stimmungsvolle Setdesigns bietet das riesenhafte, düstere Schiffsungetüm zweifellos, und auch die eine andere gelungene Tricksequenz. Doch was hilft’s, wenn der darum gestrickte Plot so spannend ist wie der Vortrag eines IG-Metall-Ortsbeauftragten zur Riester-Rente und so vorhersehbar wie ein Kreuzworträtsel.
Charakterkopf Byrne hinterlässt in seiner Rolle als Kapitän des Bergungsteams trotz wahrlich nicht sonderlich bemühten Spiels noch den passabelsten Eindruck der Darstellerriege, während Isaiah Washington als heimwehgeplagter und liebeskranker Quoten-Schwarzer die Klischees gleich kiloweise aus den spartanischen Dialogzeilen triefen lässt. Julianna Margulies (die resolute Krankenschwester aus „Emergency Room“) agiert als Vorzeige-Amazone mit plakativer Ripley-Attitüde und der Lizenz zum Talk mit den Geistern von kleinen Mädchen von Beginn an mit so kalkuliertem Sympathiebonus, dass es nun wirklich keiner sonderlichen Anstrengung der Ganglienzellen mehr bedarf, um zu erraten, wer wohl den Cuntdown to Exit überstehen wird. Der Rest der Crew ist reines Kanonen- oder besser Geisterfutter, inklusive des hier völlig deplazierten Karl Urban, den der verdutzte Zuschauer doch gerade erst als Èomer in Peter Jacksons „The two towers“ erlebte.
Nur einmal nimmt Steve Becks Geisterdampfer für einen kurzen Moment richtig Fahrt auf, dann nämlich, als der Zuschauer in einem ausgedehnten Flashback die Ereignisse vor vierzig Jahren an Bord der „Andrea Graza“ noch einmal en detail serviert bekommt. In dieser Sequenz mutiert Steve Becks einfältiges Grusel-Faltboot für einen kurzen Moment vom träge dahinplätschernden Spuktheater zum visuell in bestechendem Zeitraffer inszenierten Heroic Bloodshed in makelloser Videoclip-Ästhetik, unterlegt mit donnerndem Heavy-Metal-Score. Viel zu schnell ist diese Szenerie jedoch wieder vorbei, und der Zuschauer findet sich – wie nach einem kurzen, aber schönen Traum – im eintönig-drögen „Event Horizon“-Falsifikat namens „Ghost ship“ wieder. Endgültig Schlagseite bekommt der Dark-Castle-Geisterkahn, als der Plot im Finale zur Auflösung des reichlich wirren Handlungskonstrukts dem Zuschauer allen Ernstes einen fliegenden Holländer von Wagners Gnaden auftischt und damit das ganze düstere Geheimnis um die „Andrea Graza“ und das Schicksal ihrer Passagiere der völligen Belanglosigkeit preisgibt.
Eine wirklich hübsche Geistergeschichte hätte das werden können, wenn man sie denn nur hätte erzählen können. Zu den erbeuteten Versatzstücken von Wilhelm Hauff bis zu „Shining“ und von Richard Wagner bis zu „Sphere“ haben Steve Beck und Mark Hanlon jedoch nicht die geringste Beziehung. Da schleppen sie all diesen kulturgeschichtlichen Ballast auf die hohe See, um ihn dort so lieblos zu entsorgen wie die Schwerölfracht des Tankers „Prestige“. Verschollen im Bermuda-Dreieck zieht das ungenutzte Spielmaterial seine Spirale in die Tiefsee. Gluck, gluck, gluck!