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    A Traveler's Needs
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    4,0
    stark
    A Traveler's Needs

    Hong Sang-soos lustigster Film seit vielen Jahren

    Von Michael Bendix

    Ich persönlich habe es nicht so mit Kino-Universen: Ein Film sollte in meinen Augen für sich allein stehen können. Doch wie bei jeder Regel gibt es auch hier eine Ausnahme: Die Filme des südkoreanischen Regisseurs Hong Sang-soo existieren zwar einerseits völlig unabhängig voneinander, andererseits profitieren sie aber extrem voneinander – je mehr man von ihnen gesehen hat, desto besser werden sie. Zum einen, weil sie (fast) immer großartig sind, zum anderen, weil es im aktuellen Autorenkino wohl keinen Filmemacher mit einer so konsistenten Stil- und Themenpalette gibt.

    Ein Großteil seiner Filme setzt sich nämlich aus den gleichen Elementen zusammen: Figuren (oft Filmschaffende), die mal mehr, mal weniger zufällig aufeinandertreffen – nicht immer, aber meist in Vororten von Seoul. Lange Dialogpassagen, begleitet von viel Essen und noch mehr Alkohol. Wiederholungen, Spiegelungen und Dopplungen. Einen etwas ausführlicheren Crashkurs in Sachen Hong Sang-soo haben wir schon 2015 in unserer Kritik zu „On The Beach At Night Alone“ geliefert.

    Auf den Punkt

    Hongs filmische Mittel sind enorm reduziert, was es ihm ermöglicht, in ein und demselben Jahr manchmal bis zu drei Filme zu produzieren, die aber regelmäßig auf den größten und wichtigsten Filmfestivals der Welt gezeigt werden. 2024 macht nun „A Traveler's Needs“ den Anfang, der Hong mit einer alten Bekannten wiedervereint – Isabelle Huppert, die schon in seinen Filmen „In Another Country“ (2012) und „Claire's Camera“ (2017) in der Hauptrolle zu sehen war. Die französische Schauspiel-Legende verkörpert eine Französin namens Iris, die es auch nicht näher erläuterten Gründen nach Südkorea verschlagen hat. Hier streunt sie durch die Straßen, läuft barfuß durch einen Bach, spielt Flöte auf der Parkbank oder dämmert auf Felsvorsprüngen. Untergekommen ist sie in der Wohnung des jungen In-guk (Ha Seong-guk), der nicht weiter hinterfragt, woher genau die Lebenskünstlerin kommt und was ihre persönlichen Hintergründe sind.

    Ihr Geld verdient Iris damit, dass sie zufälligen Bekanntschaften Französisch beibringt. In der ersten Szene sehen wir sie gemeinsam mit einer Schülerin am Wohnzimmer-Tisch sitzen, die Kamera filmt beide seitlich aus der Halbnahen und formt damit eines dieser typischen Hong-Sang-soo-Tableaus: Dialoge funktionieren bei ihm nahezu nie nach dem üblichen Schuss/Gegenschuss-Prinzip, um die Reaktionen des jeweiligen Gegenübers so minutiös wie möglich einzufangen. Iris will mit I-song (Kim Seung-yun) ein Buch durchgehen, doch die steht auf und spielt stattdessen ein klassisches Stück auf dem Klavier. Die Kamera verharrt eine Weile bei Iris, die gedankenversunken ein grünes Tape um ihren Stift wickelt, bis sie aufsteht und sich der Raum mit einem langsamen Schwenk zur Totalen weitet. So schlicht die Szenerien und die grobzeilige Videooptik auf den ersten Blick wirken mögen, so überlegt geht Hong – der neben der Regie auch für Drehbuch, Schnitt und Kamera verantwortlich zeichnet – bei seinen Kompositionen vor.

    Iris (Isabelle Huppert) hat es nach Südkorea geführt, wo sich nun irgendwie mit Sprachunterricht durchschlägt. Jeonwonsa Film Co.
    Iris (Isabelle Huppert) hat es nach Südkorea geführt, wo sich nun irgendwie mit Sprachunterricht durchschlägt.

    Auf dem Balkon kommt es zu einem (in brüchigem Englisch geführten) Gespräch über das Piano-Spiel. Was sie gefühlt habe, als sie am Klavier gesessen hat, will Iris von ihrer Schülerin wissen. „Ich war glücklich“, entgegnet diese. Doch Iris will es dabei nicht bewenden lassen und bohrt weiter nach. „Die Melodie ist schön“, kommt als Antwort. Doch was hat sie wirklich gefühlt, ganz tief in ihrem Innern? War sie vielleicht stolz auf ihre Fähigkeiten? Ein bisschen vielleicht, aber eigentlich sei sie eher genervt davon gewesen, dass sie gern noch so viel besser spielen können würde.

    „Wer macht mich so müde, immer jemand anderes sein zu wollen?“, leitet Iris als Frage davon ab und schreibt diesen Satz in französischer Sprache auf eine kleine Karte (wohlgemerkt ohne ihn vorher zu übersetzen) – I-song soll den Satz als Hausaufgabe so oft wie möglich wiederholen. Es dauert lange, bis die Schichten abgetragen sind, unter denen sich I-Songs Gefühle verbergen. Doch was fühlt sie tatsächlich und was bleibt davon übrig, nachdem ihre Emotionen durch verschiedene Filter gegangen sind, erst durch Iris' hartnäckiges Insistieren hervorgekitzelt werden und mehrere Sprachbarrieren überwinden müssen – schließlich gilt es, die verbalisierten Gefühle von einer nur behelfsmäßig beherrschten in eine völlig neu zu erlernende Sprache zu übersetzen? Und am Wichtigsten (oder vielleicht auch am Unwichtigsten): Lernt man so tatsächlich Französisch?

    Geht es wirklich ums Französischlernen?

    Das fragt sich nach dem Auftakt auch eine an ihrem Unterricht interessiertes Ehepaar. Won-ju und Hae-soon (Lee Hye-young und Kwon Hae-hyo, beides Stamm-Schauspieler*innen von Hong Sang-soo) versuchen vergeblich, Iris' Methode zu verstehen – keine klassischen Lehrbücher, keine Alltagsfloskeln, stattdessen sollen sich die Schüler*innen an die Fremdsprache gewöhnen, indem sie ihre tiefsten Gefühle ausdrücken. Bald kommt das erste von vielen Gläsern Makgeolli (ein – wie immer wieder betont wird – besonders leicht bekömmliches alkoholisches Getränk) auf den Tisch, und „A Traveler's Needs“ wird nicht nur zu Hongs Variation einer sommerlichen Hangout-Komödie, sondern auch zu seinem lustigsten Film seit langer Zeit:

    Es entspinnt sich ein ständig wandelndes Gespräch, das vom Wohnzimmer über den Balkon auf die Straße führt, voller Missverständnisse, beiläufiger Gemeinheiten und unbeholfener Höflichkeit – das aber trotzdem auf einer so herzlichen wie überraschenden Note endet. Spätestens wenn Won-ju vom Tisch aufsteht und Hae-soon das Gespräch in einer peinlichen Übersprungshandlung auf Iris' mit Klebeband umwickelten Stift lenkt, gab es im Kinosaal kein Halten mehr: Lauter wurde in diesem Jahr bei einer Berlinale-Pressevorführung wahrscheinlich selten gelacht – erst recht, wenn Hong kurz darauf völlig unvermittelt auf den im Freien dösenden Hund zoomt und damit für einen der großartigsten Reaction-Shots dieses Kinojahres sorgt.

    Iris hat eine sehr besondere Lehrmethode – und ob die funktioniert, das weiß sie auch selbst noch nicht so recht. Jeonwonsa Film Co.
    Iris hat eine sehr besondere Lehrmethode – und ob die funktioniert, das weiß sie auch selbst noch nicht so recht.

    Mit den Spiegel-Szenen kommt auch eines der typischsten Stilmittel von Hong Sang-soo nicht zu kurz: Der Musik-Dialog vom Anfang wiederholt sich auf urkomische Art und Weise, später trifft Iris zweimal auf ein Gedicht desselben koreanischen Poeten – ein Effekt, mit dem Hong sein teilimprovisiertes Alltagskino immer wieder spielerisch als Konstruktion entlarvt und ihm damit eine Meta-Dimension verleiht. Überhaupt nimmt Hong zwar nicht so offensichtlich wie sonst, aber doch immer wieder Bezug auf sich und seine eigene Künstler-Person: Dass Kwon Hae-hyo, den Hong in Filmen wie „The Woman Who Ran“ gern als sein Alter Ego besetzt hat, hier kein gefeierter Filmemacher oder Drehbuchautor ist, sondern „nur“ ein Angestellter in der Filmproduktionsfirma seiner Ehefrau (die ihn einmal wenig schmeichelhaft als selbstmitleidig analysiert), ist sicher kein Zufall.

    Erst recht, da Selbstzweifel in „A Traveler's Needs“ ein wiederkehrendes Thema sind. Wenn man mehr als eine Handvoll Filme von Hong Sang-soo gesehen hat, weiß man, dass sie immer wieder auch Rückschlüsse auf ihren Regisseur zulassen – der nie zimperlich war, wenn es darum ging, sein eigenes (männliches) Ego der Lächerlichkeit preiszugeben. Das größte Pfund des Films ist allerdings Isabelle Huppert: Wohl niemand weiß das komische Potenzial der Schauspielerin so exakt zu nutzen wie Hong – sei es ihre Mimik, ihre trocken humoristischen Einwürfe oder ihr tippelnd-wankender Gang, wenn sie der Kamera den Rücken zudreht und eine Szene verlässt. Iris ist eine Leerstelle, denn abgesehen von dem, was sie uns über ihre Lebens- und Lehrphilosophie mitteilt, bleiben ihre Motivationen und ihr Background im Dunkeln. Sie ist aber auch eine ungemein fesselnde Präsenz, die zum einen davon profitiert, dass Hupperts Gesicht nach fünf Jahrzehnten und über 120 Filmen stark vorgeprägt ist – die uns die „Elle“-Schauspielerin aber trotzdem noch einmal völlig neu entdecken lässt.

    Wer würde Iris nicht bei sich einziehen lassen?

    Innerhalb von einer Minute wechselt sie von unterkühlt zu mädchenhaft clumsy, von der Lehrerin zur besten Freundin, von hermetisch zu umarmend offenherzig, und doch wirkt es so, als würde sie über jeden ihrer Züge Kontrolle ausüben – wie würde es ihr auch sonst gelingen, die Menschen um sie herum reihenweise um den Finger zu wickeln, sie für nicht erprobte Lernmethoden zahlen zu lassen oder mietfrei in ihre Wohnungen einzuziehen? Dass sie dabei nicht gerissen oder berechnend wirkt, sondern man ihr ohne Weiteres selbst den Schlüssel zu seiner Wohnung überlassen würde, ist nur einer der faszinierenden Widersprüche von Hupperts Figur.

    Natürlich leidet „A Traveler's Needs“ darunter, wenn Iris den Film in der zweiten Hälfte für eine ganze Weile verlässt, nachdem die Mutter von In-guk ihrem Sohn einen Überraschungsbesuch abstattet und dieser auf keinen Fall will, dass sie von seiner Untermieterin erfährt (was sie dann natürlich doch tut). Viele der Fährten, die Hong in der ersten Hälfte gelegt hat, laufen nun mäandernd ins Leere und die Pointendichte reduziert sich deutlich. Doch was sagt Iris ganz am Anfang über das Buch, das sie gemeinsam mit ihrer Schülerin für den Französischunterricht durchgehen will? Die erste Hälfte sei – wie so häufig – viel stärker als die zweite. Wenn sich dahinter mal nicht ein weiterer Meta-Kommentar versteckt!

    Fazit: Wie fast immer bei Hong Sang-soo sollte man sich von dem schlichten Video-Look und der mäandernden Dramaturgie nicht täuschen lassen: In nahezu jeder Szene gibt es weit mehr zu entdecken, als es auf den ersten Blick der Fall scheint. Nicht zuletzt dank einer überragenden Isabelle Huppert ist „A Traveler's Needs“ zudem der lustigste Film des südkoreanischen Regisseurs mindestens seit „The Woman Who Ran“.

    Wir haben „A Traveler's Needs“ im Rahmen der Berlinale 2024 gesehen, wo er als Teil des offiziellen Wettbewerbs gezeigt wurde.

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