Zu viel Netflix oder zu wenig?
Von Patrick FeyEs fällt schwer, nicht über das Stöckchen zu springen, das die kurdisch-österreichische Regisseurin Kurdwin Ayub ihrem Publikum in der Mitte ihres neuen Films „Mond“ hinhält: Ihre Protagonistin Sarah (Florentina Holzinger) stellt fest, dass ihre momentane Situation sie an Netflix erinnere. Zu diesem Zeitpunkt befindet sich die ehemalige MMA-Kämpferin in einer teuren Hotelbar in der jordanischen Hauptstadt Amman, wo ihr von den umstehenden Gästen allerhand Anrüchiges über ihren neuen Arbeitgeber (Omar Almajali) berichtet wird. Dieser hatte die junge Wienerin, nachdem ihre Karriere brutal zu Ende gegangen war, kurzerhand nach Jordanien einfliegen lassen, um als Personal Trainer für seine drei jugendlichen Schwestern zu arbeiten. Einquartiert in einem Edelhotel, wird sie täglich in einem schwarzen SUV mit getönten Scheiben über ein weites Wüstenmeer zum weitläufigen Anwesen gefahren.
Anders als im Zoom-Gespräch angekündigt, scheinen die Schwestern allerdings wenig angetan von Mixed Martial Arts. Stattdessen sitzt Sarah etwas verloren neben den Mädchen und schaut auf das erwartbare Treiben einer überbelichteten arabischen Daily Soap. Alles wirkt irgendwie merkwürdig – aber ist das einfach nur die fremde Kultur, oder werden die Schwestern womöglich gegen ihren Willen festgehalten? Dass der Netflix-Metakommentar betont beiläufig platziert wird, unterstreicht die betont naturalistische Inszenierung Ayubs durchaus. Schließlich vergeht heutzutage kaum ein Moment, für den wir nicht einen Vergleich zu Film und Fernsehen heranziehen. Gleichzeitig, und in diesem Moment springen wir über das Stöckchen, verpflichtet ein solcher Verweis uns beinah unausweichlich zur Überprüfung, ob nicht tatsächlich etwas dran ist am Vergleich?
Fragen wir uns also: Wie sehr unterscheidet sich „Mond“ tatsächlich von all den generischen Netflix-Thrillern, die der Streaming-Dienst über die Jahre auf den Markt geworfen hat? Zugegeben, es ist eine Frage, die im Vorfeld wohl niemand erwartet hätte, oder zumindest niemand, der Ayubs bisherige Langfilme – die autobiografische Dokumentation „Paradies! Paradies!“ (2016) sowie ihr Spielfilmdebüt „Sonne“ (2022) – gesehen hat. Produziert von keinem Geringeren als Ulrich Seidl („Hundstage“), strotzten diese Filme nur so vor Energie und soziokultureller Beobachtungsgabe. Und nein, natürlich hat auch der mittlere Teil ihrer „Sonne, Mond und Sterne“-Trilogie wenig mit dem Streamer gemein. Aber gespielt wird mit den Erwartungen an einen solchen Stoff durchaus.
So bauscht „Mond“ die angesprochene Szene am Hotel-Bartresen durch das Hörensagen der Hotelgäste ebenso wie durch die Vorurteile des Publikums zu einem regelrechten Mysterium auf: In welch halbseidenen Geschäfte genau ist die Familie wohl verstrickt? Musste Sarah womöglich deshalb direkt nach ihrer Ankunft eine Verschwiegenheitserklärung unterzeichnen? Diese gewaltigen Informationsleerstellen, mit denen Sarah in der Fremde konfrontiert ist, nutzt Ayub, um uns allzu schnell in (voreilige?) Schlussfolgerungen zu manövrieren. Mitunter scheint gerade das ihr Antrieb zu sein – uns als Publikum auf die zahlreichen Klischees hinzuweisen, die ein solcher Film für gewöhnlich auffährt.
So sagte Ayub etwa am Rande der Weltpremiere beim Filmfest in Locarno, dass sie anhand ihrer Protagonistin und den unterdrückten Schwestern den White-Savior-Komplex analysieren wolle. Es ist allerdings fraglich, wie reizvoll ein solch revelatorischer Ansatz wirklich ist. Wie eine Reihe von Coitus interrupti baut Ayub immer wieder — durchaus geschickt — Spannung auf, um im nächsten Moment eine an der Realität orientierten Plausibilität folgen zu lassen, die sich dem Lustprinzip des Kinos enthebt. Ohne weitere Pointierung oder bemerkenswerte Einsicht gerät dies schnell zu einer faden und im Kern trivialen Erinnerung daran, dass sich das reale Leben nicht unseren althergebrachten Spannungsbögen unterwirft.
Gänzlich anachronistisch kommt überdies Ayubs Entscheidung daher, sämtliche arabischen Dialoge zu untertiteln, sodass wir Zuschauer*innen permanent über mehr Wissen verfügen als die sich weitestgehend auf Englisch verständigende Sarah. Mit dem durch Alfred Hitchcock geprägten Konzepts des Suspense, den eine solche Ungleichverteilung an Informationen üblicherweise mit sich bringt, hat das allerdings wenig zu tun. Stattdessen handelt es sich hier bloß um eine weitere Form der Distanzierung – zur Protagonistin und zur Handlung generell.
Am stärksten sind deshalb ironischerweise ausgerechnet jene wenigen Szenen zu Beginn des Filmes in Wien, die ganz im Geiste ihrer vorangegangenen Langfilme funktionieren und so mühelos ihre Stärken als Regisseurin und Drehbuchschreiberin herausarbeiten: spontan, energetisch und ausgestattet mit einem sich keiner falschen Scham bewussten Humor. Als Sarahs Freund*innen sich am Vorabend ihrer Abreise bei ein paar Bieren und Joints über ihr neues Arbeitsverhältnis im Wüstenstaat belustigen, scheint an dieser Stelle mehrmals die Schwelle des guten Geschmacks überschritten. Etwa, wenn sich kollektiv darum gesorgt wird, dass Sarah in Jordanien ein Kopftuch tragen müsse (wozu, wie das zusehende Bildungsbürgertum weiß, dort keine Pflicht besteht). Als ehemalige MMA-Fighterin, so schlägt ihr einer ihrer berauschten Freunde vor, könne sie das doch zu ihrer neuen Maskierung machen, ganz wie im mexikanischen Wrestling: „Ich bin eine unterdrückte Frau, und ich zerficke euch alle“.
Eine solche Szene ist weder elegant noch politisch korrekt, vertraut uns aber gerade deshalb auf ausgesprochen effektive Weise mit dem Milieu, aus dem es Sarah überhaupt erst nach Jordanien zieht. Als Sarah nach dem antiklimaktischen Thriller, in den sie von Kurdwin Ayub geworfen wird, gegen Ende wieder aus Jordanien zurückkehrt, stellt sich Wien jedoch plötzlich ganz anders dar. Fast so, als ließe sich jene Zeit, die sie in Jordanien verbracht hat, nicht als schlichte Erfahrung im Lebenslauf auffassen und dem Leben in Wien unterordnen, hält es sie bald auch nicht mehr in der österreichischen Hauptstadt. „Ich weiß sowieso nicht, wo ich nächste Woche bin“, heißt es da. Etwas, soviel ist klar, hat sich unwiderruflich verändert während dieser letzten Wochen.
Fazit: Über weite Strecken handelt es sich bei Kurdwin Ayubs „Mond“ um einen Thriller, in dem die kurdisch-österreichische Regisseurin vor allem versucht, dem Genre die Klischees und Konventionen auszutreiben. Der dekonstruktivistische Ansatz tritt hier allerdings so offenkundig und noch dazu humorbefreit hervor, dass es oft schwerfällt, in „Mond“ mehr zu sehen als das ihm zugrundeliegende Konzept.
Wir haben „Mond“ im Rahmen des Locarno Filmfestival gesehen.